1 Zum Stand der Diskussion in der Deutschdidaktik

Die Fachdidaktik Deutsch beschäftigt sich traditionell intensiv mit der Frage, was „guter Deutschunterricht“ ist. Im Bemühen um einen gegenstands- und lernerangemessenen Unterricht entwickelt sie Konzepte und Methoden für das Lehren und Lernen in den verschiedenen Lernbereichen des Deutschunterrichts. Die vorgeschlagenen Konzepte und Methoden werden vornehmlich theoretisch begründet und häufig kontrovers diskutiert, da kaum empirische Befunde zur ihrer Wirksamkeit vorliegen (vgl. exemplarisch für den Lernbereich „Richtig schreiben“ Kruse und Reichardt 2016). Gleichwohl existieren in der Zwischenzeit Interventions- und Methodenvergleichsstudien, in denen Unterrichts- und Förderkonzepte für die verschiedenen Lernbereiche des Deutschunterrichts evaluiert werden (vgl. z. B. zum „strukturorientierten Rechtschreiblernen“ Bangel und Müller 2018; zum Vergleich unterschiedlicher Konzepte für den Schriftspracherwerb Weinhold 2009). In diesen Studien werden Fragen der Unterrichtsqualität meist nur implizit verhandelt, ohne dass auf das Konstrukt „Unterrichtsqualität“ aus der empirischen Bildungsforschung zurückgegriffen wird. Die Qualität des Unterrichts wird hier im Wesentlichen an der Verwendung bestimmter Ansätze oder Methoden festgemacht, die sich – bei konzepttreuer Umsetzung – für den Kompetenzerwerb der Lernenden als effektiv erwiesen haben. Dies muss aber zu kurz greifen, da Merkmale der Prozessqualität des Unterrichts dabei nicht berücksichtigt werden.

Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, dass die Deutschdidaktik in den letzten Jahren zunehmend Anschluss an die allgemeine (bislang stark mathematisch-naturwissenschaftlich geprägte) empirische Unterrichtsforschung sucht und deren Befunde auf den Deutschunterricht bezieht. In einer Reihe von Publikationen werden Merkmale, die sich in anderen Fächern als lernwirksam erwiesen haben, in ihrer Bedeutung für den Deutschunterricht reflektiert, ohne jedoch mit empirischen Daten zu prüfen, ob diese Merkmale im Deutschunterricht zu beobachten sind und/oder mit Lernerfolgen zusammenhängen (Bremerich-Vos 2000; Eikenbusch 2005; Grundler 2018).

Vor allem aber gibt es inzwischen einige empirische Studien zur Qualität des Deutschunterrichts, die dezidiert an Befunde der allgemeinen Unterrichtsqualitätsforschung anschließen und sich dabei meist am Konzept der drei Basisdimensionen orientieren: Unterrichts- bzw. Klassenführung, konstruktive Unterstützung bzw. unterstützendes Lernklima sowie kognitive Aktivierung (Klieme et al. 2006; Lipowsky und Bleck 2019; Praetorius et al. 2020). Im Fokus steht dabei die „kognitive Aktivierung“, die für die fachlichen Lernerfolge von Schüler(inne)n besonders bedeutsam sein dürfte (Hanisch 2018; Stahns et al. 2020). Da bei der kognitiven Aktivierung „die Beziehung zwischen Lernenden und Lerngegenstand“ (Winkler 2017, S. 79) im Mittelpunkt steht, wird für diese Dimension die Notwendigkeit einer für den Deutschunterricht spezifischen Operationalisierung betont.

Bei den derzeit vorliegenden empirischen Arbeiten handelt es sich zunächst um Fragebogenstudien aus dem Kontext von Large-Scale-Assessments. Dabei wurde z. B. in IGLU 2006 (Lankes und Carstensen 2007) zunächst versucht, das kognitive Aktivierungspotenzial des Unterrichts mithilfe von Selbstauskünften der Lehrpersonen (etwa über die Häufigkeit des Einsatzes von Lesestrategien) zu erfassen. Da damit aber keine Aussagen über die Qualität der konkreten Umsetzung möglich sind, wurden in späteren Erhebungsrunden Items zur Prozessqualität aus anderen Fächern für die Lehrer- und Schülerfragebögen übernommen und auf das Fach Deutsch bezogen (Stahns und Rieser 2018; Stahns et al. 2017, 2020). Diese Items sind nicht im engeren Sinne fachspezifisch, weil sie für jedes Fach gelten können, sie sind aber fachbezogen, d. h. im Hinblick auf ihre Relevanz für das Fach Deutsch ausgewählt und in der Itemformulierung auf den Deutschunterricht ausgerichtet (z. B. „Unser Deutschlehrer/unsere Deutschlehrerin möchte, dass wir unsere Antworten erklären.“).

Darüber hinaus liegen (Video‑)Studien zu verschiedenen Lernbereichen des Deutschunterrichts vor, die sich um eine Erfassung des Potenzials zur kognitiven Aktivierung bemühen (Stahns 2013; Lotz 2016; Winkler 2017; Hanisch 2018; ähnlich „Kompetenzorientierung“ bei Kleinbub 2010). Fokussiert werden dabei meist Merkmale des Unterrichtsgesprächs und/oder der eingesetzten Aufgaben, die letztendlich fächerübergreifende Gültigkeit haben und hier fachbezogen, also unter „Berücksichtigung fachspezifischer Relevanzsetzungen“ (Winkler 2017, S. 93) ausgewählt und eingesetzt werden (Pracht und Löffler 2012; Stahns 2013; Winkler 2017). Lotz (2016) macht dagegen kognitive Aktivierung im Leseunterricht u. a. an der Vermittlung von Lesestrategien fest und versucht damit, das Potenzial zur kognitiven Aktivierung fachspezifisch zu operationalisieren. Anders als im Rahmen von Fragebogenerhebungen bei IGLU wird auf der Basis von Videoaufzeichnungen z. B. erfasst, ob Lehrpersonen Lesestrategien explizit erläutern oder modellieren.

Jüngst wird in der Deutschdidaktik thematisiert, dass mit der alleinigen Fokussierung auf die Dimension „Kognitive Aktivierung“ zahlreiche Merkmale fachlicher Unterrichtsqualität unberücksichtigt bleiben (Winkler 2020, S. 25; Stahns im Druck). Hier folgt die Deutschdidaktik der Diskussion um die Weiterentwicklung bzw. Ergänzung des dreidimensionalen Modells von Unterrichtsqualität um weitere Dimensionen fachbezogener oder fachspezifischer Unterrichtsqualität (Lipowsky und Bleck 2019), die zumindest für einige Fächer (Mathematik, Sport u. a. m.) im Sinne eines Frameworks konkretisiert werden konnten (Praetorius et al. 2020). Eine systematische Aufarbeitung der für das Fach Deutsch notwendigen fachspezifischen Ergänzungen eines solchen Frameworks steht aus. Es gibt bislang nur einige Fallstudien zum Deutschunterricht, in denen fachspezifische Aspekte von Unterrichtsqualität berücksichtigt werden (z. B. Bremerich-Vos 2006; Stahns und Bremerich-Vos 2013; Stahns im Druck). Der Diskurs darüber, in welcher Art und auf welcher Ebene die postulierte Fachspezifik für den Deutschunterricht zu konzeptualisieren wäre, steht noch am Anfang. Ungeklärt ist auch die Frage, ob sich solche fachspezifischen Aspekte überhaupt auf den Deutschunterricht als Gesamten beziehen lassen oder ob sie nicht vielmehr für die einzelnen Lernbereiche bestimmt werden müssen.

2 Eigene Positionierung: Fachspezifische Unterrichtsqualität im Projekt „Profess-R“

Ein Versuch, ein entsprechend ergänztes Modell von Unterrichtsqualität zu entwickeln, wurde in der ländervergleichenden Videostudie „Professionelle Kompetenzen und Unterrichtshandeln von Primarlehrpersonen im Lernbereich Rechtschreiben“ (Profess-R) unternommen. Leitend für diese Entwicklung waren fachliche Befunde zum Orthografieerwerb und zum Rechtschreibunterricht, normative Überlegungen zu „gutem“ Rechtschreibunterricht sowie Befunde zur Unterrichtsqualität im Deutschunterricht und in anderen Fächern. Dabei zeigte sich, dass mit den drei Basisdimensionen relevante fachliche Aspekte für die Einschätzung der Unterrichtsqualität im Deutschunterricht nicht hinreichend erfasst werden können. In Anlehnung an Praetorius und Charalambous (2018) wurde daher die Dimension „Auswahl und Präsentation des Lerngegenstandes“ ergänzt und für den Rechtschreibunterricht (bzw. den Lerngegenstand Doppelkonsonantenschreibung) konkretisiert. Aus fachlicher Sicht ist es höchst relevant, welche Aspekte des Lerngegenstands ausgewählt werden und wie dieser im Unterricht präsentiert wird. Damit werden fachliche Lerngelegenheiten geschaffen, die eine unerlässliche Voraussetzung für einen gesteuerten Kompetenzerwerb im Lernbereich „Richtig schreiben“ darstellen. Entscheidend ist dabei die fachliche Qualität ihrer Ausgestaltung, die mit dieser Dimension eingeschätzt werden soll.

Da wir zudem zwischen sozio-emotionaler und kognitiver Unterstützung differenzieren (vgl. Kleickmann et al. 2020), setzen wir ein Modell von Unterrichtsqualität mit den folgenden fünf Dimensionen an: 1. Effiziente Klassenführung, 2. Auswahl und Präsentation des Lerngegenstands, 3. Sozio-emotionale Unterstützung, 4. Kognitive Aktivierung und 5. Kognitive Unterstützung.

In diesem Modell greifen generische, fachbezogene und fachspezifische Aspekte auf mehreren Ebenen ineinander. Auf welcher Ebene Fachlichkeit eine Rolle spielt, ist für jede (Sub‑)Dimension im Einzelfall zu klären. Dies soll kurz an der Operationalisierung der Dimension „Auswahl und Präsentation des Lerngegenstands“ erläutert werden. Es handelt sich grundsätzlich um eine hybride Dimension, die neben den bereits erwähnten fachlichen Aspekten auch generische Merkmale umfasst. So sind die Subdimensionen zwar generisch formuliert, werden hier aber fachbezogen eingesetzt, da mit dem Lerngegenstand bzw. der fachlichen Lerngelegenheit das Fach und seine Inhalte ins Spiel kommen: 1. Inhaltlicher Fokus der fachlichen Lerngelegenheiten, 2. Situierung des Lerngegenstands, 3. Klare und strukturierte Präsentation des Lerngegenstands und 4. Fachlich korrekte Präsentation des Lerngegenstands.

Die Fachspezifik zeigt sich dabei teilweise auf der Ebene der Items, teilweise aber auch erst auf der Ebene der Auswahl und Beschreibung der Indikatoren. Items wie „Der Lehrperson unterlaufen im Unterricht keine fachlichen Fehler“ sind nur fachbezogen, bei den Indikatoren kommen jedoch auch fachspezifische Gesichtspunkte, etwa die Definition, was als fachlicher Fehler zählt, zum Tragen. Wird die Passung des im Unterricht verwendeten Wortmaterials analysiert (Item: „Das Wortmaterial repräsentiert den Lerngegenstand in angemessener Weise.“), ist dies genuin fach- bzw. sogar gegenstandsspezifisch.

Eine angemessene Berücksichtigung fachlicher Aspekte von Unterrichtsqualität ist aus unserer Sicht nur durch die hier angedeutete Integration generischer, fachbezogener und fachspezifischer Aspekte möglich. Neben den Dimensionen „Kognitive Aktivierung“ und „Kognitive Unterstützung“ braucht es dazu eine Dimension wie „Auswahl und Präsentation des Lerngegenstands“, mit deren Hilfe die Gegenstandsangemessenheit des Unterrichts erfasst werden kann. Inwiefern mit einer solchen fachlichen Ausgestaltung von Dimensionen, Items oder Indikatoren die damit erfassten Konstrukte in den unterschiedlichen Lernbereichen des Deutschunterrichts – und erst recht in anderen Fächern – noch vergleichbar sind, muss aktuell offenbleiben. Es ist zu wünschen, dass diese Fragen auch in der Deutschdidaktik diskutiert und für die unterschiedlichen Lernbereiche und deren Vergleich untereinander aufgearbeitet werden. Zudem gilt es empirisch zu prüfen, ob sich die so dimensionierte fachspezifische Prozessqualität als bedeutsam für das Lernen im Deutschunterricht erweist. Die Deutschdidaktik täte gut daran, in diese Diskussion verstärkt einzusteigen und ihre ureigenen Kompetenzen, wie das Wissen um die Gegenstände und deren Erwerbsprozesse, differenziert und selbstbewusst in die Erforschung der Unterrichtsqualität einzubringen.