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Migration - Flucht - Integration: Kritische Politikbegleitung von der ‚Gastarbeiterfrage’ bis zur ‚Flüchtlingskrise’. Erinnerungen und Beiträge © Loeper Verlag

Neues Buch von Bade vorgestellt

Migrationsforschung und kritische Politikbegleitung

Klaus J. Bade hat ein neues, stark autobiographisch geprägtes Buch vorgelegt. Es geht um die Diskussion um Migration, Flucht und Integration in Deutschland seit den frühen 1980er Jahren. Das Buch wurde am 21. April 2017 im Rahmen der diesjährigen Berlin Lecture des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) im Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin von dem Osnabrücker Migrationsforscher Prof. Dr. Jochen Oltmer vorgestellt. MiGAZIN dokumentiert den Text seiner Buchvorstellung.

Von Jochen Oltmer Freitag, 21.04.2017, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 24.04.2017, 17:37 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Jede Gesellschaft handelt fortwährend neu aus, welche Bewegung sie als ‘Migration’ versteht, wer unter potentiellen Zuwanderern als nützlich gilt und deshalb mit einer gewissen Offenheit rechnen kann, wer zugehörig ist oder wem wenigstens ein Näheverhältnis zugebilligt wird, wen sie als hilfs- und damit als schutzbedürftig wahrnimmt. Seit vielen Monaten bewegen wir uns in einer Phase beschleunigten Aushandelns von Migration. Beteiligt waren und sind viele. Neu daran ist nicht das Aushandeln selbst, sondern die hohe Zahl der beteiligten Akteure aus Politik, Ökonomie, Medien und Zivilgesellschaft und damit auch das Ausmaß der Unübersichtlichkeit der Positionierungen und Polarisierungen.

Wissenschaftlich bedeuten solche Aushandlungen eine enorme Herausforderung; denn wir haben große Mühe, ihre Dynamik zu verstehen, zu erklären, warum in der einen Gesellschaft eine Tendenz zur Schließung gegenüber Zuwanderung auszumachen ist, in einer anderen eine Perspektive der Öffnung. Warum war in der Bundesrepublik bis in den Herbst 2015 hinein die Bereitschaft relativ hoch, Menschen aus Syrien als Schutzsuchende zu verstehen. Warum war sie in Frankreich, Polen oder Großbritannien weitaus niedriger? Warum sind die Chancen auf die Zubilligung eines Schutzstatus in Bayern anders als im Saarland oder in Sachsen – obgleich wir es mit einem einheitlichen Rechtsrahmen zu tun haben? Wer wird warum zum ‘echten’ Flüchtling, wer hingegen warum zum ‘Wirtschaftsflüchtling’?

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Als Dokumentation solcher überaus komplexer, vielgestaltiger, stets im Wandel befindlicher gesellschaftlicher Aushandlungen unter Beteiligung zahlreicher, unterschiedlich mächtiger Akteure habe ich das neue Buch von Klaus Bade gelesen. Unter dem Titel „Migration – Flucht – Integration. Kritische Politikbegleitung von der ‘Gastarbeiterfrage bis zur Flüchtlingskrise’“ bietet es Hunderte publizistischer Beiträge Klaus Bades seit den frühen 1980er Jahren. Und führt damit seine vielfältigen Interventionen in das gesellschaftliche Aushandeln um Migration und Integration in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa der vergangenen rund vierzig Jahre zusammen.

Auf diese Weise vermag das Buch auch bundesdeutsche Migrationsgeschichte bis in die Gegenwart zu schreiben – etwas, woran es uns weiterhin fehlt; denn trotz der Aufmerksamkeit gegenüber dem Themenkomplex Migration seit vielen Jahren mangelt es an breit angelegten Studien über die verschiedensten Bewegungen aus, in und nach Deutschland seit 1945, die unterschiedlichsten Thematisierungen dieser Migrationsverhältnisse und die zahllosen Bemühungen um eine Beeinflussung von Migration. Trotz des hohen Interesses haben wir auch keine großen Studien über Folgen und Effekte von Migration in Deutschland im Wandel, wie sie seit Jahrzehnten unter den Stichworten Integration, Eingliederung, Inklusion, Assimilation, Akkulturation, Adaption oder Teilhabe diskutiert werden. Oder wie Klaus Bade in seinem Buch – lange Zeiträume aus eigener Anschauung überblickend – deutlich machen kann: Eben gerade nicht intensiv diskutiert wurden – vielmehr Vereinseitigungen, Verkürzungen, Vermeidungen, Verzerrungen, Vereinfachungen und die stete Suche nach schlichten ‘Rezepten’ und ‘Lösungen’ für überaus komplexe Herausforderungen das jeweilige historische oder aktuelle Szenario beherrschten bzw. beherrschen.

„Migration – Flucht – Integration. Kritische Politikbegleitung von der ‘Gastarbeiterfrage bis zur Flüchtlingskrise’. Erinnerungen und Beiträge“. Das Buch verfügt über zwei Teile: Der erste, deutlich kürzere, für sich genommen aber immer noch sehr umfangreiche Teil bietet Einführungen in den Band und in die zahlreichen Dokumente. Der zweite Teil des Buches verweist dann auf über 500 Seiten in jeweils zwei Spalten auf eine enorme Fülle an publizistischen Beiträgen Klaus Bades aus vierzig Jahren, die nach Feldern gesellschaftlicher Aushandlung über Migration, Flucht und Integration geordnet sind und sich im Wesentlichen einer Chronologie unterwerfen.

Klaus Bade tritt im Buch nicht nur als wissenschaftlicher Beobachter, sondern, wie die titelgebende „kritische Politikbegleitung“ bereits festschreibt, als wortmächtiger Akteur auf. Ein weiteres wesentliches Stichwort bietet dabei der Begriff des „kritischen Engagements“. Worin liegt der Impetus Klaus Bades, vierzig Jahre lang die Aushandlung von Migration in der Einwanderungsgesellschaft Bundesrepublik Deutschland mitzugestalten?

Als zentral kann hier gewiss der Begriff der ‘Aufklärung’ gelten: ‘Aufklärung’ oder ‘aufklären’ findet sich 41 Mal im Buch. Angesichts der enormen Menge an Wörtern im Buch mag das zunächst nicht als viel erschienen, aber ‘Aufklärung’ bzw. ‘aufklären’ bilden Schlüsselworte, wie bereits der erste Satz der Einleitung deutlich werden lässt. Wortlaut Klaus Bade, S. 15: „Leitmotiv meines – parteilosen – kritischen Engagements gegenüber der Entwicklung, öffentlichen Diskussion und politischen Bearbeitung von Migration, Flucht, Asyl und Integration war das Bemühen um Aufklärung über meines Erachtens in diesen Bereichen anstehende oder erwartbare Probleme und Aufgaben.“

Prof. Dr. Klaus J. Bade, geb. 1944, ist Migrationsforscher, Publizist und Politikberater. Er lehrte bis 2007 Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück und lebt seither in Berlin. Er war u.a. Begründer des Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), des bundesweiten Rates für Migration (RfM) und bis 2012 Gründungsvorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) in Berlin. Bade hatte Fellowships/Gastprofessuren an den Universitäten Harvard und Oxford, an der Niederländischen Akademie der Wissenschaften sowie am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Er hat zu Migration und Integration in Geschichte und Gegenwart viele Forschungsprojekte geleitet, einige Dutzend Bücher und zahlreiche kleinere Arbeiten veröffentlicht. Für sein Engagement in Forschung und kritischer Politikbegleitung hat er diverse Auszeichnungen erhalten u.a. das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse (www.kjbade.de). Aktuell ist sein neues Buch „Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, ‚Islamkritik‘ und Terror in der Einwanderungs- gesellschaft„, Schwalbach i. T. 2013 (ergänzte 3. Aufl. als eBook 2014).

Dieses „Bemühen um Aufklärung’ entstammt der Vorstellung von der gesellschaftlichen Verantwortung von Wissenschaft und Universität. Von Klaus Bade habe ich den Satz gelernt „Universität ist eine gesellschaftliche Veranstaltung“ bzw. „Wissenschaft ist eine gesellschaftliche Veranstaltung“, will heißen: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können sich, müssen sich, sollen sich und dürften sich gesellschaftlichen Aushandlungen nicht entziehen. Zitat Klaus Bade, ebenfalls S. 15: „Es ging mir dabei auch darum […] eine weitere Öffentlichkeit vertraut zu machen mit der Normalität der migratorischen Herausforderung der Gegenwart und absehbaren Zukunft, die von vielen als angstbesetzte historische Ausnahmesituationen erlebt wurden und werden.“

‘Wissenschaft als gesellschaftliche Veranstaltung’ heißt auch: Aufklärung erfordert nicht nur die Bereitschaft zum „kritischen Engagement“, sondern auch Kenntnisse, Kompetenzen und Infrastrukturen. Das heute hier vorzustellende Buch macht implizit stets diese Voraussetzungen und Rahmenbedingungen von „kritischem Engagement“ und „kritischer Politikbegleitung“ deutlich. Als Stichworte, für mehr ist nicht Zeit, seien genannt: Die Rolle und Bedeutung Klaus Bades für erstens die Grundlagenforschung, das heißt die Etablierung von Historischer Migrationsforschung und interdisziplinär orientierter Migrationsforschung überhaupt in der europäischen und deutschen Wissenschaftslandschaft. Zweitens der damit eng verbundenen Rolle und Bedeutung Klaus Bades beim Aufbau von Forschungsstrukturen und bei der Vernetzung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, darunter zum Beispiel das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück, die Gründung wissenschaftlicher Gesellschaften, Zeitschriften, Schriftenreihen, die tätige Mithilfe bei der Etablierung von Förderlinien großer Stiftungen. Drittens der Transfer. Transfer von Ansätzen und Kenntnissen in die eigene Disziplin, die Geschichtswissenschaften, die zwar vieles verstanden hat, der es aber sogar heute noch immer wieder gelingt, Meistererzählungen über vergangene Gesellschaften zu produzieren, in denen sich kein einziger Körper bewegt. Transfer über das eigene Fach hinaus und Transfer in die weitere Öffentlichkeit hinein. Transfer wiederum auch verbunden mit der Ausbildung von Strukturen, ‘kritische Politikbegleitung’ über den Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration oder vorher schon über den Rat für Migration, beide ohne den heftigen Anstoß, das Engagement von Klaus Bade bekanntlich nicht vorstellbar.

„Migration – Flucht – Integration. Kritische Politikbegleitung von der ‘Gastarbeiterfrage bis zur Flüchtlingskrise’“. ‘Kritische Politikbegleitung’ begegnet handlungsmächtigen Institutionen und Personen mit grundsätzlicher Skepsis. Sie will den stets und ständig geforderten und verkündeten einfachen ‘Lösungen’, den ‘Rezepten’ nicht glauben. Sie widerspricht der aktuell wieder einmal Konjunktur gewinnenden Vorstellung, Demokratie könnten nur Eliten, versage doch die Wahlbevölkerung dauernd, wie der Brexit, die Wahl Trumps oder der wahrscheinliche Zuwachs an Stimmen für Marine Le Pen zeige. ‘Kritische Politikbegleitung’ als ‘Aufklärung’ eben, als Langfristprojekt, ein Engagement das, wie man zwischen den Zeilen immer wieder lesen kann, enorme Kraft kostet, immer wieder kreative Energien freisetzt, verzweifeln, aber auch wieder Hoffnungen schöpfen lässt.

Auf S. 14 lesen wir, dieses Buch müsse auch verstanden werden als ein Schlussstrich hinsichtlich des steten Beteiligens an den gesellschaftlichen Aushandlungen über Migration. Das aber ist ein Schlusstrich mit Abstrichen; denn im nächsten Satz schreibt Klaus Bade, das Buch sei bereits ein Ergebnis des Rückzugs aus ‘kritischem Engagement’ bzw. ‘kritischer Politikbegleitung’. Ist es das? Meine Antwort dürfte klar sein. Aktuell Feuilleton

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