Europaweite Stärkung der Kollektivvertragssysteme gefragt

02. Dezember 2016

In der EU ist derzeit eine Sichtweise auf Löhne und Kollektivvertragssysteme vorherrschend, die diese einseitig als Problem für die Wettbewerbsfähigkeit definiert. Diese Sichtweise führte zu Reformen der „Economic Governance“ bzw. der wirtschaftspolitischen Steuerung in der EU, die als neuer lohnpolitischer Interventionismus verstanden werden kann. In unserem neuen Sammelband analysieren wir die Auswirkungen dieser Politik auf die Arbeitsbeziehungen in den einzelnen Ländern, aber auch auf den Verlauf der wirtschaftlichen und sozialen Krise, die auf diese Art nicht überwunden werden konnte. Demgegenüber steht eine alternative Sichtweise, die auf eine expansivere und solidarischere Lohnpolitik in Europa setzt.

Sichtweise auf Löhne und Kollektivvertragssystem in der EU im Wandel

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich in zahlreichen westeuropäischen Ländern ein Wirtschafts- und Sozialmodell herausgebildet, dass auf einem inklusiven Wachstumspfad beruhte, der in der Lage war ökonomische Prosperität mit sozialem Fortschritt zu verbinden. Zu den konstituierenden Faktoren dieses Modells gehörten starke Gewerkschaften und umfassende Kollektivvertragssysteme, bei denen die große Mehrheit der Beschäftigten durch Kollektivverträge erfasst wurde. Während starke Gewerkschaften als notwendiges soziales und politisches Gegengewicht zu den destruktiveren Tendenzen des Kapitalismus anerkannt wurden, galten umfassende Kollektivvertragssysteme als Garanten für eine relativ egalitäre Einkommensverteilung, die wiederum eine wesentliche Vorbedingung für nachhaltiges und inklusives Wachstum bildete.

Bis heute werden danach starke Gewerkschaften und umfassende Kollektivvertragssysteme oft als Eckpfeiler des europäischen Sozialmodells bezeichnet. So argumentiert z.B. die Europäische Kommission noch im jüngsten Industrial Relations Report der GD Beschäftigung, dass „Länder mit starken Institutionen des Sozialdialogs zu den leistungsstärksten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaften der EU zählen und eine bessere und weniger anfällige soziale Situation aufweisen“.

Seit den 1990er Jahren haben innerhalb der EU jedoch auch die gegenteiligen Positionen zunehmend an Einfluss gewonnen. Gestützt auf große Teile der neoklassisch geprägten Wirtschaftswissenschaft und befördert durch neoliberale ÖkonomInnen werden Gewerkschaften und Kollektivvertragssysteme vorrangig als „institutionelle Rigiditäten“ angesehen, die ein effizientes Wirken der Marktmechanismen behindern. In der Konsequenz werden daher ein „Rückgang der Kollektivvertragsbindung“ und eine „allgemeine Reduzierung der Lohnfestsetzungsmacht der Gewerkschaften“ gefordert, wie dies in aller Offenheit in dem mittlerweile berühmten Bericht der GD Wirtschaft und Finanzen aus dem Jahr 2012 formuliert wurde.

Löhne und Kollektivvertragssysteme unter Druck

Im Rahmen der neuen europäischen Economic Governance haben neoliberale Ansichten über Lohn- und Kollektivvertragspolitik noch stärker an Einfluss gewonnen und zu politischen „Empfehlungen“ geführt, die in einigen europäische Ländern weitreichende Eingriffe in die nationalen Kollektivvertragssysteme begründet haben. Hierbei gehen die Europäische Kommission und der Europäische Rat davon aus, dass die Ursache der ökonomischen Krise in Europa vor allem in einem Mangel an Wettbewerbsfähigkeit begründet liegt. Insbesondere für die Länder der Eurozone, für die das Instrument der Abwertung ihrer Währungen nicht mehr zur Verfügung steht, wird deshalb eine Politik der „internen Abwertung“ gefordert, bei der durch eine Senkung der Lohn- und Arbeitskosten die Wettbewerbsfähigkeit wieder hergestellt werden soll.

Obwohl alle jüngsten politischen Eingriffe in die Entwicklung von Löhnen und Kollektivvertragssystemen letztendlich auf nationaler Ebene erfolgen, wurden sie durch die Verfahren der neuen europäischen Economic Governance wie dem „Europäischen Semester“ oder dem „Verfahren zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte“ stark beeinflusst. Dies gilt selbst für ein Land wie Frankreich, dessen jüngste Arbeitsmarktreformen auch durch massiven europäischen Druck befördert wurden. Am deutlichsten fällt der Einfluss der neuen europäischen Economic Governance jedoch bei denjenigen Ländern aus, die wie z.B. Griechenland, Irland oder Portugal finanzielle Hilfen im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus beantragt haben und im Gegenzug von der so genannten ‚Troika‘ zahlreiche „strukturelle Reformen“ verordnet bekamen.

Der hierdurch entstandene neue politische Interventionismus bezieht sich sowohl auf die aktuelle Lohnentwicklung als auch auf die Verfasstheit der Kollektivvertragssysteme. Zunächst haben viele Länder unmittelbar in die aktuellen Lohnentwicklungen eingegriffen, indem sie vor allem im öffentlichen Sektor die Löhne gekürzt oder eingefroren haben. In einigen Ländern wie z.B. in Griechenland wurden darüber hinaus auch im privaten Sektor Lohnstopps verordnet und damit offen die Kollektivvertragsautonomie verletzt. Darüber hinaus haben sie die Kollektivvertragssysteme reformiert und hierbei in der Regel gegen den Widerstand der Gewerkschaften und – in vielen Fällen – auch Arbeitgeberverbänden eine mehr oder weniger weitreichende Dezentralisierung durchgesetzt, um die nach unten gerichtete Lohnflexibilität der Unternehmen zu erhöhen.

Die Folgen des neuen lohnpolitischen Interventionismus

Im Ergebnis kam es in einigen Ländern zu einem beachtlichen Rückgang von Flächenkollektivverträgen und ihrer Bindungswirkung, wie dies insbesondere in Südeuropa beobachtet werden konnte (Kapitel 3 im Buch). Diese Länder drohen sich auf ein osteuropäisches Modell hin zu bewegen, wo (mit Ausnahme von Slowenien) schwache Gewerkschaften und niedrige Kollektivbindung seit längerem Realität sind (Kapitel 5). Der Vorreiter für eine solche Politik findet sich hingegen in Großbritannien, wo bereits in den 1980er Jahren unter der Thatcher-Regierung eine massive Schwächung der Gewerkschaften und ein rasanter Abbau der Kollektivvertragsbindung vollzogen wurde (Kapitel 6). Der Einfluss der neuen europäischen Economic Governance zeigt sich schließlich auch in den skandinavischen Ländern (Kapitel 4).

Als direkte Folge des europäischen Drucks verzeichnen zahlreiche Länder – insbesondere in Süd- und Osteuropa – einen deutlichen Rückgang ihrer Reallöhne sowie einen scharfen Anstieg der Lohnungleichheit. Diese Entwicklung schwächte die Binnennachfrage und trug so zur Verstetigung der wirtschaftlichen Stagnation und hohen Arbeitslosigkeit bei. Da außerdem viele europäische Länder die gleiche Strategie der Lohnzurückhaltung in Kombination mit Kürzungen der öffentlichen Haushalte fuhren, hat dies in vielen Fällen eine rückläufige Preisentwicklung befördert, die die wirtschaftliche Entwicklung zusätzlich beeinträchtigte.

Solidarische Lohnpolitik als neue „optimale Lohnregel“

In den 2000er Jahren war die Lohnentwicklung in den meisten europäischen Ländern durch sinkende Lohnquoten und eine zunehmende Lohnspreizung geprägt (Kapitel 2 im Buch). In der Folge hinkte die lohngetriebene private Nachfrage systematisch hinterher und machte es den meisten Ländern unmöglich, ihre Wachstumspotenziale auszuschöpfen. Um dieses strukturelle Nachfragedefizit zu überwinden, haben sich in Europa zwei unterschiedliche Wirtschaftsmodelle herausgebildet. Bei dem ersten handelt es sich um das exportorientierte Wachstumsmodell (das neben Deutschland in den meisten nordeuropäischen Ländern zu finden ist), in dem die fehlende Binnennachfrage zumindest teilweise durch steigende Außenhandelsüberschüsse ausgeglichen wird. Das andere ist ein schuldenorientiertes Wachstumsmodell (das viele Länder Südeuropas verfolgten), bei dem der Boom der Binnennachfrage nicht durch steigende Einkommen, sondern durch private Schulden finanziert wird. Die Krise hat gezeigt, dass beide Modelle, die zudem noch voneinander abhängen, nicht nachhaltig sind.

In den letzten Jahren offenbart sich immer deutlicher, dass die durch die Verfahren der neuen europäischen Economic Governance geförderten Politiken es nicht vermochten, einen Weg aus der wirtschaftlichen Stagnation zu finden. Neben der notwendigen Abkehr von der Austeritätspolitik und der Förderung einer deutlich expansiveren Fiskalpolitik ist nun erforderlich, die Lohnpolitik europaweit neu auszurichten. Eine Orientierung am Konzept der produktivitätsorientierten Lohnpolitik bzw. der „goldenen Lohnregel“ wie es im heurigen unabhängigen Jahreswachstumsbericht heißt, sollte ein erstes Element dieser Neuausrichtung sein.

Gleichzeitig sollte eine moderne koordinierte Lohnpolitik über diese klassischen Konzepte hinausgehen. Gefragt ist eine neue ‚optimale Lohnregel’ bzw. eine solidarische Lohnpolitik in Europa, wie sie etwa Chagny und Husson (Kapitel 9 im Buch) vorschlagen. Sie muss Antworten auf die gestiegenen Lohnunterscheide zwischen den einzelnen Sektoren beinhalten, also vor allem wie die Löhne der Niedriglohnempfänger überproportional angehoben werden können. Darüber hinaus sollte man– zumindest vorübergehend – expansivere Lohnentwicklungen zulassen, um den langfristigen Abwärtstrend bei den Lohnquoten umzukehren. Wie jüngst beispielsweise Onaran und Obst gezeigt haben, könnte eine expansivere und solidarische Lohnpolitik in Europa zu einem deutlichen Wachstums- und Investitionsschub beitragen.

Institutionelle Voraussetzungen für eine expansivere und solidarische Lohnpolitik

Eine gesamtwirtschaftliche Lohnkoordinierung ist ohne angemessene Institutionen zur Lohnfestlegung unmöglich. Im Grundsatz sind dazu drei Elemente erforderlich: angemessene Mindestlöhne, umfangreiche Kollektivvertragsverhandlungen und starke Gewerkschaften.

Was die Mindestlöhne angeht, haben alle europäischen Länder mehr oder weniger universelle Lohnuntergrenzen festgelegt. Darüber hinaus hat in vielen Ländern – insbesondere in denen mit einem relativ schwachen Kollektivvertragssystem – die Entwicklung gesetzlicher Mindestlöhne eine wichtige Signalfunktion für die Gesamtlohnentwicklung. Die Höhe der Mindestlöhne ist jedoch oft recht gering und nicht geeignet, Armutslöhne zu verhindern. In diesem Kontext hätte eine europaweit koordinierte Mindestlohnpolitik die Aufgabe, angemessene Löhne für alle Arbeitnehmer zu gewährleisten (Kapitel 10 im Buch). Sie müsste überdurchschnittliche Lohnerhöhungen am unteren Ende der Lohnskala fördern und so eine spürbare Ankurbelung der privaten Nachfrage unterstützen. Eurofound hat errechnet, dass von einer Anhebung aller Mindestlöhne auf 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns rund 16 Prozent aller Beschäftigten in Europa profitieren würden.

Bei den Kollektivvertragssystemen ist die Situation innerhalb Europas sehr unterschiedlich. Die Kollektivvertragsbindung zwischen den einzelnen Ländern reicht von fast 100 Prozent in Belgien und Österreich bis nur rund 10 Prozent in Lettland. Eine hohe Kollektivbindung, bei der die meisten ArbeitnehmerInnen unter einen Kollektivvertrag fallen, erfordert ein umfassendes System von Flächenkollektivverträgen. Außerdem braucht sie zumeist auch eine unterstützende Regulierung durch den Staat, zum Beispiel durch die vermehrte Nutzung von Allgemeinverbindlicherklärungen von Kollektivverträgen. Anstatt Kollektivvertragsstrukturen auf Branchen- und Verbandsebene zu schwächen oder sogar zu zerstören, sollte die EU zusammen mit den europäischen Gewerkschaften und ArbeitgeberInnenverbänden eine breit angelegte Kampagne starten, um das Kollektivvertragssystem zu stärken und die Kollektivbindung zu erhöhen (Kapitel 11 im Buch).

Schließlich haben unlängst IWF-ÖkonomInnen den Stand der internationalen Arbeitsbeziehungsforschung anerkannt und festgehalten, dass ein inklusives Wachstumsmodell auf Basis einer egalitäreren Einkommensverteilung deutlich stärkere Gewerkschaften erfordert. Obwohl es zunächst Aufgabe der Gewerkschaften selbst ist, ihre organisatorische Machtbasis zu stärken und den Trend rückläufiger Organisationsgrade umzukehren, liegt es auch in der Verantwortung der Gesellschaft, die Entwicklung starker Gewerkschaften zu ermöglichen und zu unterstützen.

Herausforderung einer europäischen Koordinierung von Lohn- und Wirtschaftspolitik

Ein Ausweg aus der Krise in Europa wird nur dann gelingen, wenn die Ungleichheit verringert und die Realeinkommen der Mehrheit der Menschen (den ‚99%’) steigen. Die Umsetzung eines solchen alternativen Wohlstandsmodells muss einerseits auf nationaler Ebene erfolgen, sie braucht zugleich jedoch auch eine europaweite Koordinierung. Der europäische Integrationsmodus muss dahingehend verändern werden, dass der derzeitige Vorrang der Marktintegration durch eine soziale Integration abgelöst wird, die sowohl europaweite Mindeststandards festlegt, als auch die Spielräume für weitergehende soziale Regelungen auf nationaler Ebene erweitert. Zum anderen muss eine europaweite Koordinierung dafür sorgen, dass ökonomische und soziale Ungleichgewichte in Europa abgebaut und nationale ‚Beggar-thy-neighbour’-Strategien durch europäische Regeln verhindert werden.

Eine Strategie der Re-Nationalisierung, wie sie etwa im aktuellen Brexit-Votum zum Ausdruck kommt, wird dagegen allein kaum in der Lage sein, ein alternatives Wohlstandsmodell durchzusetzen, da ihm die Instrumente fehlen, transnationale Märkte politisch einzubetten und transnationale Lohnkonkurrenzen zu begrenzen. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass gerade in Ländern mit vergleichsweise umfassenden Kollektivvertragssystemen und koordinierten Lohnpolitiken (wie in den kontinental- und nordeuropäischen Staaten) ein exportorientiertes Wachstumsmodell auf Kosten der europäischen Nachbarstaaten durch moderate Lohnentwicklungen unterstützt wurde. Allein die Stärkung nationaler Kollektivvertragsinstitutionen ist demnach europaweit noch kein Garant für den Wechsel hin zu einer expansiveren und solidarischeren Lohnpolitik.

Die inhaltliche Neuausrichtung der Lohnpolitik in Europa muss daher mit dem Ausbau der europaweiten Koordinierung einhergehen. Hierbei geht es nicht nur um einen „Neustart“ der traditionellen sektoralen und sektorenübergreifenden Sozialdialoge, sondern vielmehr um eine grundlegende Neuausrichtung der Economic Governance. Ohne eine solche Neuausrichtung der europäischen Wirtschaftspolitik dürfte es auch den europäischen Gewerkschaften kaum gelingen, ihre Lohnpolitiken dauerhaft der transnationalen Marktkonkurrenz zu entziehen.

Ausblick

Gute Ideen allein reichen nicht aus, sondern können nur dann Kraft entfalten, wenn sie mit sozialer Mobilisierung einhergehen. Umso wichtiger ist es, dass der Europäische Gewerkschaftsbund mittlerweile die Durchführung einer europaweiten Kampagne unter dem Motto „Europe needs a pay rise“ beschlossen hat, in dem viele der hier diskutierten Ideen aufgegriffen werden. Es bleibt zu hoffen, dass es dieser Kampagne tatsächlich gelingt, nationale Gewerkschaftsstrategien zur Stärkung der Lohn- und Kollektivvertragspolitik europaweit so zu koordinieren, dass sie sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene Kraft entfalten und breite Kreise im politischen Raum für sich gewinnen.

Dieser Beitrag basiert auf dem zusammenfassenden Schlusskapitel des soeben erschienen Buches Lohnpolitik unter europäischer “Economic Governance”.