Tausende sterben, und niemand schaut hin. Äthiopien ist ein zerbrochenes Land

Tausende sterben, und niemand schaut hin. Äthiopien ist ein zerbrochenes Land

Eine junge Frau wird am 22. Juni 2021 in der Stadt Mekele ins Spital eingeliefert. Yasuyoshi Chiba / AFP

Äthiopien galt lange als der Stabilitätsanker Ostafrikas – bis zum Tigray-Krieg. Im Gegensatz zur Ukraine schaut hier niemand hin, während Tausende sterben. Eine Reise an die Tigray-Front.

Christian Putsch, Äthiopien 10 min
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Alle paar Minuten versperrt ein zerfleddertes Seil die Strasse. Gespannt von grimmigen Soldaten in grünen Uniformen, Rekruten der äthiopischen Armee. Ausweiskontrolle. Prüfende Blicke. Hektische Fragen. Wohin? Warum? Suche nach dem Feind. Die aufständische «Volksbefreiungsfront von Tigray» (TPLF) war Ende 2021 aus Äthiopiens nördlichster Region Tigray hierher vorgedrungen, nach Amhara, den angrenzenden Bundesstaat. Ziel: die Hauptstadt Addis Abeba. Erst im Januar drängte die Armee die TPLF-Truppen schliesslich mit eilig aus der Türkei gelieferten Drohnen wieder zurück.

Fahrt in den Krieg

In Amhara ist man weiterhin in Alarmbereitschaft. Solche Kontrollen sind heikel. Noch einige Tage zuvor verbrachte unser Fahrer die Nacht auf der Polizeistation. Bei einem seiner Fahrgäste hatten die Soldaten einen in Tigray ausgestellten Führerschein gefunden. Verhaftung aller im Auto – bis sich herausstellte, dass der Mann nicht zu den rund 7 Millionen Tigrayern in Äthiopien zählte. Und schon gar nicht zur TPLF, die mit ihrem Umsturzversuch der Regierung vorerst gescheitert zu sein scheint. Der Mann hatte lediglich einige Jahre in Tigray gearbeitet. Das reichte.

Ausgebrannte Panzer am Strassenrand erinnern an den TPLF-Vormarsch. Deren Soldaten haben sich zurückgezogen, Leidtragende sind die Bewohner der geplünderten Amhara-Dörfer, aber auch die wenigen verbliebenen Tigray-Zivilisten in der Gegend. Sie wollen wir besuchen, es sind nur noch wenige Kilometer. Ob wir Zugang zum «Camp Jare» in der Nähe des Dorfes Tula erhalten werden, ist noch nicht ganz klar.

Rund 1100 Tigrayer leben in verlassenen Baubaracken, wo bis zum Krieg noch eine der wichtigsten Zugstrecken Ostafrikas hätte entstehen sollen. Äthiopien bezeichnet derartige Einrichtungen als Flüchtlingslager. Es handele sich vielmehr um Konzentrationslager, halten Tigray-Aktivisten dagegen – die Insassen dort würden von Soldaten festgehalten.

Der Begriff wurde schon auf höherer Ebene für die Beschreibung dieses Krieges gewählt. Von Alexander Rondos zum Beispiel, bis Ende Juni 2021 Sondergesandter der Europäischen Union am Horn von Afrika. Tigray sei ein «einziges enormes Konzentrationslager», so Rondos damals, «die Leute sterben, und das unter schrecklichen Umständen».

Vor 18 Monaten begannen die Kämpfe. Gesicherte Erkenntnisse über die Zahl der Toten gibt es nicht. Laut Berechnungen der belgischen Universität Gent wurden in Tigray und den umliegenden Gegenden wohl 50 000 Menschen getötet, darunter über 12 000 Zivilistinnen und Zivilisten. Tatsächlich aber könnte der Konflikt gemäss Forschungen mindestens 250 000 weitere Menschenleben gekostet haben, die wegen abgeschnittener Versorgungswege an Hunger gestorben sind – oder aufgrund fehlender Medizin.

International wahrgenommen wird das kaum. Der Chef der Weltgesundheitsorganisation, Tedros Adhanom Ghebreyesus, der selbst Tigrayer ist, fragte im April sichtlich emotional, «ob die Welt wirklich die gleiche Aufmerksamkeit gegenüber schwarzen und weissen Leben gibt». So würden die Krisen in Äthiopien, Jemen, Afghanistan und Syrien nur «einen Bruchteil» der Sorge auslösen, mit der auf den Ukraine-Krieg reagiert werde. Medial gesehen muss man ihm recht geben.

Tigray bleibt auch deshalb im Verborgenen, weil die Regierung in der Region Strom und Telekommunikation abgeklemmt hat – und kaum unabhängige Informationen nach aussen dringen können. Der Konflikt erschüttert die Grundfesten des von Inflation, Dürre und ethnischen Spannungen geschwächten Äthiopien, diesem vermeintlichen Stabilitätsanker am chronisch instabilen Horn von Afrika.

Die TPLF hatte während der 1980er Jahre erfolgreich den Kampf gegen Diktator Mengistu Haile Mariam angeführt, kam 1991 an die Macht, obwohl nur jeder 15. Äthiopier Tigrayer ist. Dort hielt sie sich mit autoritärer Regierungsführung und staatsgetriebener Wirtschaftsstruktur für knapp drei Jahrzehnte an der Spitze eines Parteienbündnisses.

Bis Abiy Ahmed kam. Im Jahr 2018 verdrängte der ehemalige Soldat und Geheimdienstmitarbeiter mit einer neuen Koalition die TPLF. Gerade einmal 41 Jahre alt war er damals und wurde schnell zum Liebling des Westens. Abiy öffnete Wirtschaft und Politik, trieb die Versöhnung Eritreas voran – und wurde mit dem Friedensnobelpreis belohnt, der ihm nur ein Jahr später verliehen wurde. Übereilt. Denn da schwelte der Konflikt mit der düpierten TPLF längst.

Der Politiker kürzte Tigray radikal die Mittel. Als die TPLF eine Covid-bedingte Verschiebung der Wahlen ablehnte, kurzerhand eigenständig in Tigray abstimmen liess und 98 Prozent Stimmgewinne verkündete, strich er sie ganz. Die TPLF griff daraufhin einen Armeestützpunkt an, Äthiopien schlug innerhalb von Stunden zurück. Bald richtete sich auch das Nachbarland Eritrea gegen Tigray und marschierte ein, die Gewalt eskalierte immer weiter. Westliche Länder, darunter Deutschland, strichen die Budgethilfe.

Seit Ende März gilt zwischen TPLF und Äthiopiens Regierung ein «humanitärer Waffenstillstand», der einigermassen respektiert wird und die vorsichtige Hoffnung nährt, dass es bald zu diplomatischen Verhandlungen und zu einem Ende der anhaltenden ­wirtschaftlichen Blockade Tigrays kommen könnte. Zuletzt wurden erstmals seit Monaten wieder Konvois mit Lebensmittelnothilfe in die Region gelassen, die grösser ist als die Schweiz. Und am Freitag hat die TPLF die Freilassung von 4200 Kriegsgefangenen angekündigt, um die Verhandlungen zu stärken.

Der undurchsichtigste aller Kriege

Am Camp Jare versperrt uns ein Dutzend Soldaten den Weg. Sie wachen über die Flüchtlinge aus der Region Tigray. Die Akkreditierung, die der «NZZ am Sonntag» nach fünf Monaten Wartezeit ausgestellt worden war, scheint wertlos. Kurz vor der Reise hatte sich in den sozialen Netzwerken ein Video verbreitet, das angeblich zeigt, wie äthiopische Soldaten einen aus Tigray stammenden Mann treten, schlagen – und schliesslich erschiessen.

Keine guten Voraussetzungen für Transparenz in diesem vielleicht intransparentesten aller Konflikte, in dem es laut Menschenrechtsorganisationen schwerwiegende Kriegsverbrechen auf beiden Seiten gab.

Schliesslich erlauben die Männer doch den Zutritt. Sie bringen einen Mann im Jackett her. Er stellt sich als Habtom Mezebe vor. Er sei wie alle hier Tigrayer, sagt er. Doch die TPLF habe ihn zu Beginn des Krieges verhaftet, weil er in Tigray für die äthiopische Verwaltung gearbeitet habe. Nach seiner Flucht habe er sein Haus verloren. Ausführlich referiert er über den «Sieg über jene, die Spaltung bringen». Und er wolle den äthiopischen Soldaten für ihren Schutz danken, sagt er in deren Richtung. Sie überwachen jedes Wort. Die TPLF habe in der Amhara-Region zu viele Menschen getötet. «Wer hier lebt, der denkt, dass ich zur TPLF gehöre.»

Eine Gruppe Frauen lehnt es ab, fotografiert zu werden. Sie sind vor dem Hunger in Tigray geflohen, haben Angst, dass sie dort nun als Verräterinnen gesehen werden. Doch dann drängt sich Yohannes Million nach vorne, ein abgemagerter Mann. Der 30-Jährige zeigt einen Ordner mit Zertifikaten aus England. Dort habe er seit seiner Jugend gelebt, mit zwei Kindern in London und einer unbeschränkten Aufenthaltsgenehmigung. Er wolle nur eines: zurück.

Yohannes Million sitzt in einem Flüchtlingslager in Amhara fest.

Yohannes Million sitzt in einem Flüchtlingslager in Amhara fest.

Christian Putsch

In Tigray sei er nur zu Besuch gewesen, als der Krieg ausbrach. «Es gab plötzlich keinen Weg mehr zum Flughafen in Addis, Schmuggler haben mich aus Tigray rausgebracht», erzählt er. Bei der Flucht verlor er alles, das letzte Geld, den Ehering, 25 Kilogramm Körpergewicht. Soldaten griffen ihn auf, brachten Million ins Camp. «Ich darf das Lager nicht verlassen», sagt er, «aber selbst wenn ich es dürfte, brauchte ich eine Militäreskorte, um zu überleben. Die Leute hier sind wütend.»

Weiterfahrt am nächsten Morgen. Hin zur Wut. Zwei Stunden weiter nördlich, nur noch 50 Kilometer von Tigray entfernt, ist sie im Stadion der Stadt Weldiya allgegenwärtig. Es ist voller Soldaten. Nicht von Äthiopiens Armee. Die Amhara, das zweitgrösste Volk des Landes, haben ihre eigenen Streitkräfte massiv ausgebaut. 300 strammstehende Uniformierte werden vor Tausenden Zuschauern und Fernsehkameras für die Vollendung ihrer Grundausbildung geehrt. Mit Pauken und Trompeten.

Schwerbewaffnete Jugendbewegung

«Jugendbewegung» werden die inzwischen 15 000 schwerbewaffneten «Fanos» verharmlosend genannt, in Amhara ist das eine Bezeichnung für den Kampf gegen Besetzer. Gerade sind sie bei Präsident Abiy wohlgelitten, schliesslich helfen sie im Krieg gegen Tigray, mit dem die Amhara historischen Streit über die Grenzziehung haben. Doch was kommt danach?

In der Regierung in Addis gibt es Überlegungen, derartige Milizen weitgehend zu entwaffnen. Ein riskantes Unterfangen, vergleichbare Bürgerwehren wachsen schliesslich auch bei den Oromo, der grössten Ethnie des Landes. Kritiker weisen auf derartige Entwicklungen hin, wenn sie langfristig die Gefahr eines Auseinanderbrechens Äthiopiens im Stile Jugoslawiens sehen.

Äthiopischer Zentralismus schürt Konflikte

Durch alle Epochen hinweg wurde im Vielvölkerstaat Äthiopien um das Zusammenleben der über 80 ethnischen Gruppen gerungen. Die das Land seit 1991 regierende «Volksbefreiungsfront von Tigray» (TPLF) führte ein föderales System mit semi-autonomen Regionen für die grössten Völker ein – und förderte damit ethnischen Nationalismus.

Premierminister Abiy Ahmed leitete im Jahr 2018 schnell radikale Reformen ein. Im Lob für die Öffnung von Politik und Wirtschaft wurde das Risiko seiner Umwandlung Äthiopiens zum Zentralstaat kaum wahrgenommen. Neben Tigray strich er auch anderen Regionen kompromisslos Mittel und Kompetenzen. Das Land steckt in einer Wirtschaftskrise, die nicht nur auf den Krieg zurückzuführen ist. Äthiopien hat mit Nahrungsunsicherheit zu kämpfen. Einige Gegenden erleben die schwerste Dürre seit Jahrzehnten. Auch wegen des Ukraine-Krieges beträgt die Inflationsrate für Lebensmittel über 40 Prozent.

Noch aber eint der gemeinsame Feind: die Tigray. Eine Gruppe Fanos erklärt sich bereit, uns mit an die Front zu nehmen. Ein Geländewagen hält an Weldiyas grösster Strasse, wo fast jeder zweite Bürger Fano-Uniform trägt. Zusammen mit drei Kämpfern geht es 30 Minuten über Feldwege. Im Radio läuft ein Lied über den Freiheitskämpfer Belay Zeleke, der hier vor 80 Jahren die Italiener zurückschlug: «Erinnert euch an unsere Helden», tönt es in lieblicher Melodie, «erinnert euch an ihre Namen – und führt ihren Kampf fort.»

Auf einer Lichtung warten 80 Kämpfer, darunter auch einige Frauen. Uniformen, Maschinengewehre, meterlange Munitionsgürtel, seit acht Monaten harren sie im Busch aus: Lehrer, Verkäufer und Bauern im Kriegsmodus, angetrieben vom Schmerz – fast alle haben Verwandte und Freunde verloren, als die TPLF im vergangenen Jahr einmarschierte. Ihre Waffen werden durch Spenden der Amhara finanziert, auch aus der Diaspora im Ausland. Einige wirken neu, andere antik. Ein älterer Kämpfer hält das Gewehr seines Urgrossvaters in die Höhe. Davor seien in den 1930er Jahren schon die Italiener davongerannt, erzählt er. Nun sind es die Tigrayer.

Die TPLF behauptet seit Wochen, sich aus der Region zurückgezogen zu haben. «Eine Lüge», sagt Fano-Anführer Kasshun Sissay, der bis zum Krieg ein ruhiges Leben als Ingenieur führte, «wir sehen sie doch durch die Zielfernrohre unserer Gewehre in den Bergen.» Da seien überall Scharfschützen, sagt ein anderer. In Amhara glauben sie, dass sich die TPLF lediglich neu formiere, um dann ihre Gegend erneut zu besetzen. Sissay sagt: «Das werden wir verhindern.» Dass auch Amhara-Milizen weiterhin auf dem Gebiet Tigrays kämpfen, erwähnt er nicht. Die Informationen werden in diesem Krieg spärlich verteilt.

Kasshun Sissay, früher Ingenieur, jetzt Anführer der Fano-Einheit.

Kasshun Sissay, früher Ingenieur, jetzt Anführer der Fano-Einheit.

Christian Putsch

Die Männer sagen, dass Äthiopien vereint bleiben werde. Mit Tigray. Aber ohne die TPLF. «Sie muss eliminiert werden», sagt Sissay, «daran darf es keinen Zweifel geben.» Ob er sich erst als Amhara oder Äthiopier sehe? Der 37-Jährige überlegt kurz. «Als Erstes bin ich ein Amhara, das ist die Basis», sagt er, «wenn ich Respekt spüre, dann fühle ich mich auch als Äthiopier.» Sollte er als Amhara aber Diskriminierung von «welcher Seite auch immer» erfahren, dann sei Widerstand «die einzige Möglichkeit». Zum Abschied sagt Sissay, dass er Mitgefühl mit den hungernden Menschen in Tigray habe. «Aber es muss allen klar sein, dass die TPLF dafür die Verantwortung trägt.»

Auf der Rückfahrt werden wieder amharische Befreiungssongs gesungen. Eine der wenigen Frauen unter den Fanos ist zu Scherzen aufgelegt: «Sagt allen, dass wir einen Weissen gefangen haben, der für den Feind kämpft.» Eine Anspielung auf die USA, der viele Amhara vorwerfen, bei dem Konflikt eher auf der Seite Tigrays zu stehen. Äthiopiens Regierung zeigte zuletzt durchaus wieder mehr Kooperationsbereitschaft mit dem Westen, doch Länder wie China und die Türkei haben seit Beginn des Tigray-Krieges an Einfluss gewonnen.

Taxifahrer aus Tigray fürchtet in der Region Afar um sein Leben.

Taxifahrer aus Tigray fürchtet in der Region Afar um sein Leben.

Christian Putsch

Die langfristige Zukunft des Landes hängt an diesem komplexen Vielvölkerkonstrukt. Die unmittelbare Zukunft an einer Landstrasse in Afar, dem anderen an Tigray angrenzenden Bundesstaat. Sie ist gegenwärtig der einzige Zugang nach Tigray für die Lebensmitteltransporte des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen WHO. Dutzende Lastwagen stehen auf einem umfunktionierten Industriepark. An dem Projekt hingen vor dem Krieg Tausende Arbeitsplätze in der Textilbranche. Nun sind es 7 Millionen Leben in Tigray.

Der Hass auf Tigray

Einige der Fahrer erzählen, wie sie bis vor einigen Monaten auf der Strecke verprügelt wurden. Aber auch, wie sich der Zugang zuletzt nach einem «humanitären Waffenstillstand» verbessert hat. Die Trucks werden vor der Abfahrt mit Röntgengeräten gescannt, um auszuschliessen, dass ungenehmigte Waren nach Tigray geschmuggelt werden. Es kommen jedenfalls derzeit wieder Lebensmittel in Tigray an, wöchentlich 3000 Tonnen. Immerhin, auch wenn es weiterhin nur ein Bruchteil der erforderlichen Menge ist.

Der Transport bleibt ein kompliziertes Unterfangen, schliesslich wütete die TPLF auch in Afar. Sie versuchte dort die Versorgungsroute ins Nachbarland Djibouti einzunehmen, damit den einzigen Zugang Äthiopiens zum Meer zu blockieren – und so wohl langfristig eine neue Regierung mit ihrer Beteiligung zu erzwingen. Hunderte starben auch in Afar, 300 000 Menschen mussten flüchten, leben unter erbärmlichen Umständen. In einem Dorf in der Nähe wurden am Vortag zwei kleine Kinder begraben, sie hatten aus einem verdreckten Fluss getrunken.

Es überrascht nicht, dass einige Afar auch nach dem TPLF-Rückzug Lebensmittellieferungen in die Gegend des Feindes ablehnen, auch wenn dort längst nicht alle die TPLF unterstützen – zumal es auch für die Afar inmitten einer verheerenden Dürre nicht genug Nothilfe gibt.

Doch auch Tigrayern, die in Afar geboren sind, schlägt blanker Rassismus entgegen. Wir treffen im Morgengrauen einen jungen Mann. Er erzählt, wie er mit Hunderten anderen Tigrayern aus Afars Regionalhauptstadt Semera im vergangenen Jahr verhaftet wurde. Mit 28 Bussen seien sie abtransportiert worden, Hunderte Kilometer entfernt in ein Gefängnis gesteckt worden. «Wir haben ein Brot und dreckiges Wasser am Tag bekommen», sagt er.

Der pauschale Vorwurf: Unterstützung der TPLF. Nach vier Monaten kam er frei, steht aber wie Millionen Tigrayer nach wie vor unter Generalverdacht. Ihre Konten sind meist weiterhin eingefroren, Geschäfte wurden enteignet, Besitz gestohlen. Auch der Mann in Semera verlor sein Mofa-Taxi Bajaj. Nun mietet er eines, versucht, das Nötigste zu verdienen.

Und nicht aufzufallen. Bei seinen Fahrten spricht er so wenig wie möglich. Sein Tigrinya-Dialekt könnte ihn verraten. Sein Schweigen ist eine Überlebensstrategie.

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