Sie sorgen sich mehr um Proteste als um ihre Gesundheit: Was die Anwohner vom geplanten Tiefenlager für Atommüll in Stadel halten

Erstmals liegt eine repräsentative Umfrage dazu vor, wie die Bevölkerung über den Nagra-Standort denkt.

Francesca Prader 5 min
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So soll der oberirdische Teil des Atommülllagers dereinst aussehen. Darunter geht es rund 900 Meter in die Tiefe.

So soll der oberirdische Teil des Atommülllagers dereinst aussehen. Darunter geht es rund 900 Meter in die Tiefe.

PD / Nagra

Die Verwunderung war gross, als die Nagra (Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle) im September 2022 den Standort für das geplante Tiefenlager von atomarem Abfall bekanntgab: Stadel im Zürcher Unterland.

Der Standortentscheid überraschte, weil die Nagra die Region Nördlich Lägern 2015 aus dem Rennen genommen hatte. Der Fokus lag danach auf den beiden anderen untersuchten Gebieten: Bözberg im Aargau und Zürich Nordost zwischen Winterthur und Schaffhausen.

Die Kehrtwende begründete die Nagra damit, dass es damals bautechnische Unsicherheiten gegeben habe, weil die für das Tiefenlager nötige Gesteinsschicht – Opalinuston – in Stadel viel tiefer liege als an den anderen möglichen Standorten.

So könnte das Tiefenlager dereinst aussehen.

PD / Nagra

Die Kosten werden etwa 20 Milliarden Franken betragen. Vorgesehen sind zwei Lager: eines für schwach- und mittelaktive Abfälle – die beispielsweise in der Medizin, der Industrie oder der Forschung anfallen können – sowie eines für hochaktive Abfälle, wie verbrauchte Brennelemente aus Kernkraftwerken.

Die Akzeptanz für ein Tiefenlager ist gross

Doch wie geht Stadels Bevölkerung damit um, dass hier dereinst Atommüll gelagert werden soll? Und wie steht die Schweizer Bevölkerung allgemein zu dem Thema?

Um das herauszufinden, hat die Nagra beim Umfrageinstitut GfS Bern eine Studie in Auftrag gegeben. Im Herbst 2023 wurden schweizweit 1006 Personen befragt, für die regionale Umfrage in Nördlich Lägern kamen weitere 800 Personen dazu. Erstmals liegen damit Zahlen für die ganze Schweiz wie auch für die Standortregion Nördlich Lägern vor.

Am Dienstag hat die Nagra die Ergebnisse der Studie präsentiert.

Die Bevölkerung nimmt demnach in puncto Tiefenlager eine überwiegend pragmatische Haltung ein, die Akzeptanz sei schweizweit und in der betroffenen Region hoch, so heisst es in der Medienmitteilung der Nagra. Sowohl technisch (71 Prozent) wie auch politisch (61 Prozent) traue sich die Schweiz die Lösung des Atommüllproblems zu.

Schweizweit würden zwei Drittel der Befragten ein Tiefenlager am eigenen Wohnort akzeptieren, teilt die Nagra mit. «In der tatsächlich betroffenen Region Nördlich Lägern sind es 68 Prozent.»

Die Akzeptanz für ein Tiefenlager ist national und regional gross

Reaktion auf ein Tiefenlager in der Wohnregion, in Prozent
unterstützen
akzeptieren
weder noch
ungutes Gefühl
aktiver Widerstand

Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass es nur fair sei, wenn in der Schweiz anfallender Atommüll auch hierzulande gelagert werde. National stimmen dem 84 Prozent der Befragten zu, in der betroffenen Region sind es 87 Prozent.

Drei Viertel der Befragten sind zudem der Meinung, dass die Zeit drängt, eine Lösung für die Lagerung des Atommülls zu finden. Die Abfälle sollen nicht für längere Zeit in Zwischenlagern deponiert bleiben.

So steht die Bevölkerung zur Lagerung von Atommüll in der Schweiz

Anteil der Befragten, die mit den folgenden Punkten sehr oder ziemlich einverstanden sind, in Prozent
Schweizweit
Nördlich Lägern

Wenn das Tiefenlager dereinst gebaut und das Problem der Atommülllagerung damit gelöst ist, bedeutet das allerdings keinen Freipass für neue Kernkraftwerke. In der Region nördlich der Lägern würden ein Drittel, schweizweit 37 Prozent der Befragten neue Kernkraftwerke befürworten.

60 Prozent der schweizweit Befragten sind zudem der Meinung, dass die Standortregion die Solidarität der Schweiz verdient habe. «Die Mehrheit der Schweiz anerkennt, dass die Region einen wichtigen Beitrag leistet zur Lösung einer nationalen Aufgabe», sagt Philipp Senn, Nagra-Geschäftsleitungsmitglied und Bereichsleiter Kommunikation.

Wie hoch die allfälligen Kompensationen und Abgeltungen konkret ausfallen werden, ist noch nicht entschieden. Letztes Jahr haben erste Gespräche zwischen den Standortgemeinden, dem Bund und den entsorgungspflichtigen Unternehmen stattgefunden. Der Austausch wird von Swissnuclear, dem Verband der Schweizer Kernkraftbetreiber, begleitet.

Die nun folgende Gesprächsphase bilde die Grundlage für die anschliessenden Verhandlungen, sagt René Zimmermann, Kommunikationsverantwortlicher von Swissnuclear, auf Anfrage der NZZ. «Erst in der Verhandlungsphase werden die Modalitäten und die Höhe der Abgeltungen und Kompensationen gemeinsam erarbeitet und geklärt.» Der gesamte Prozess bis zum Ende der Verhandlungen werde mehrere Jahre in Anspruch nehmen.

Gesellschaftliche Spannungen befürchtet

Das Thema Tiefenlager birgt auch Konfliktpotenzial: Sowohl national (77 Prozent) als auch regional (73 Prozent) hält eine Mehrheit der Befragten Spannungen und Proteste für wahrscheinliche Szenarien.

Proteste und gesellschaftliche Spannungen erwartet

Folgende Auswirkungen eines Tiefenlagers sind sehr oder ziemlich wahrscheinlich, in Prozent
Schweizweit
Nördlich Lägern

Die Mediensprecherin Jagna Züllig sagt, die Nagra nehme diese Sorge der Bevölkerung ernst. «Wir möchten unseren Beitrag dazu leisten, damit die Debatte konstruktiv bleibt und es nicht zu Spannungen kommt.»

Um den Austausch mit den Einwohnern der Region zu vereinfachen, eröffnet die Nagra ein Büro in Stadel. «Wir wollen unsere Kommunikation verbessern, den Austausch nicht nur anbieten, sondern ihn auch suchen – vor allem mit dem Drittel der Bevölkerung, das Vorbehalte hat», sagt Züllig.

Eine vergleichsweise kleinere Rolle spielen Bedenken rund um die Sicherheit und die Gesundheit. Nur eine Minderheit der Befragten schätzt es als wahrscheinlich ein, dass für heutige oder künftige Generationen durch die Freisetzung von Radioaktivität oder eine Verseuchung der Umwelt Risiken bestünden.

Bemerkenswert an den Umfrageergebnissen ist, dass die Sorge über die angesprochenen möglichen Risiken in der Standortregion weniger gross zu sein scheint als schweizweit. So halten nur 36 Prozent der Ortsansässigen gesundheitliche Risiken für wahrscheinlich. Der nationale Wert liegt bei 46 Prozent.

Das Kieswerk Stadel in Windlach in der Gemeinde Stadel. Hier in der Nähe könnte eine Anlage für das Atomendlager entstehen.

Das Kieswerk Stadel in Windlach in der Gemeinde Stadel. Hier in der Nähe könnte eine Anlage für das Atomendlager entstehen.

Michael Buholzer / Keys

Während die Meinungen in Sachen Risiken und Chancen eines Tiefenlagers regional und national relativ ähnlich ausfallen, zeigen sich teilweise beachtliche Unterschiede zwischen den Generationen.

Die Bevölkerung ab 40 ist am besten informiert

Kenntnis von der Diskussion über Atommülllagerung, in Prozent
15- bis 39-Jährige
40- bis 64-Jährige
65 und älter

So gaben schweizweit nur 56 Prozent der Befragten im Alter zwischen 15 und 39 Jahren an, in den letzten Jahren etwas von der Diskussion um die Endlagerung von radioaktiven Abfällen mitbekommen. Eine Ausnahme sind die 15- bis 39-Jährigen, die in der Region Nördlich Lägern wohnen.

Bei den Bevölkerungsgruppen zwischen 40 und 64 Jahren und den über 65-Jährigen gaben bis zu 99 Prozent der Befragten an, um die Debatte zu wissen.

Gleichzeitig sind die unter 40-Jährigen optimistischer, wenn es um die Frage geht, ob ein Tiefenlager in der Nähe positive Auswirkungen haben könnte. Schweizweit halten es zwei Drittel der Befragten für ziemlich oder sehr wahrscheinlich, dass das Lager positive Impulse für das Gewerbe bringen werde. Bei den regional Befragten ist der Anteil mit 58 Prozent leicht tiefer.

Die unter 40-Jährigen glauben an positive Impulse für das Gewerbe durch das Tiefenlager

sehr/ziemlich wahrscheinlich, in Prozent
15- bis 39-Jährige
40- bis 64-Jährige
65 und älter

Bei den über 65-Jährigen gehen derweil nur gut 40 Prozent von einem positiven Effekt auf das Gewerbe aus.

Bis mit den Bauarbeiten begonnen werden kann, dauert es allerdings noch gut zwanzig Jahre. Erst wenn ein Bewilligungsgesuch ausgearbeitet ist, kann der Bundesrat darüber befinden. Das wird voraussichtlich 2029 der Fall sein. Danach muss das Parlament darüber abstimmen. Dessen Entscheid untersteht einem Referendum.