Gastkommentar

Politisches Wunschdenken in der Beziehung Schweiz - EU

Wer im Hinblick auf die Verhandlungen der Schweiz mit der EU davon ausgeht, die EU könne bei Mechanismen mit einem gerichtlichen Element ganz auf den EuGH verzichten, gibt sich einer Illusion hin.

Christa Tobler 60 Kommentare 3 min
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Die Schweiz und die EU sondieren, wie beim Streitbeilegungsmechanismus das gerichtliche Element festgelegt werden soll.

Die Schweiz und die EU sondieren, wie beim Streitbeilegungsmechanismus das gerichtliche Element festgelegt werden soll.

Michael Buholzer / Keystone

Im Laufe der Jahre hat die Schweiz mit der EU zahlreiche Abkommen geschlossen. Dazu gehört auch eine Reihe von Wirtschaftsabkommen, die inhaltlich EU-Binnenmarktrecht ins bilaterale Verhältnis übertragen haben. Die Vorstellung beider Vertragsparteien (und nicht etwa nur der EU) ist dabei die, dass sich die Schweiz in solchen Fällen zum Nutzen beider am EU-System des Binnenmarkts beteiligt.

Allerdings gilt in dieser Konstellation für die EU dann auch der Grundsatz der Autonomie des Unionsrechts. Er verlangt unter anderem, dass der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) das letzte Wort über die Auslegung gemeinsamer, aus dem EU-Recht stammender Abkommensvorschriften hat. Der Grundsatz ist Teil des EU-Verfassungsrechts und bindet die EU. Anders gesagt: Sie darf keine nach dem EU-Recht modellierten Abkommen abschliessen, wenn diese dort, wo Gerichte zum Zug kommen, nicht in irgendeiner Weise dafür sorgen, dass der EuGH eine Rolle spielt.

Nun gibt es grundsätzlich mehr als ein Modell, wie dies erreicht werden kann. So spielt der EuGH zum Beispiel im Recht des EWR, der den EU-Binnenmarkt auf Island, Liechtenstein und Norwegen ausdehnt, für diese Länder keine direkte Rolle. Indirekt hat er aber auch hier das letzte Wort, weil sich der Efta-Gerichtshof (der für Fälle aus Island, Liechtenstein und Norwegen zuständig ist) bei der Auslegung des EWR-Rechts an die EuGH-Rechtsprechung halten muss.

Ein neueres Modell zur Sicherstellung der Rolle des EuGH ist jenes, das im Entwurf für ein institutionelles Abkommen vorgesehen war, nämlich ein Streitbeilegungsverfahren mit Schiedsgericht und Auslegungsrolle des EuGH für jene Fälle, in denen es um Abkommensrecht geht, das inhaltlich aus dem EU-Recht stammt. Dies sehen heute einige Handelsabkommen der EU vor. So steht es auch im Nordirland-Protokoll, das Teil des Brexit-Abkommens ist. Die politische Einigung über Anpassungen dieses Protokolls durch das «Windsor Framework» ändert daran nichts.

Ein wichtiger Ausgangspunkt in den laufenden Gesprächen zwischen der Schweiz und der EU ist der, dass der Streitbeilegungsmechanismus ein gerichtliches Element umfassen soll. Gerichte schaffen Klarheit und nützen im Übrigen gerade dem kleineren Partner einer internationalen Beziehung besonders. Durch Gerichtsentscheide entsteht Rechtssicherheit. Genau das fehlt bis jetzt bei den meisten bilateralen Abkommen. So sieht zum Beispiel das Zollabkommen von 2009 zwar ein Schiedsgericht vor, aber dieses ist gerade nicht für die Streitigkeit selber zuständig. Es fehlt deshalb ein Mechanismus, der Klarheit über die Auslegung schaffen könnte, weshalb dieses Abkommen für die heutige Diskussion um die Streitbeilegung kein taugliches Modell ist.

Zu meinen, die EU könne bei Mechanismen mit einem gerichtlichen Element ganz auf den EuGH verzichten, ist eine Illusion. Wer dies abstreitet, verkennt schlicht und einfach die Tatsache, dass die EU an den Autonomiegrundsatz gebunden ist. Er verkennt weiter, dass sich dieser Grundsatz im Laufe der Zeit entwickelt und zunehmend schärfere Konturen erhalten hat. Dadurch sind die EU-rechtlichen Anforderungen an ein Streitschlichtungsmodell strenger geworden.

Für die Schweiz ist die Entwicklung des Autonomiegrundsatzes natürlich nicht angenehm, weil sie den Verhandlungsspielraum der EU und damit auch den Rahmen der möglichen Lösungen stärker begrenzt, als dies noch vor ein paar Jahrzehnten der Fall war. Der bilaterale Weg bringt der Schweiz bekanntlich viele Vorteile. Wer an ihm festhalten will, sollte zur Kenntnis nehmen, dass in der heutigen Situation am EuGH in der einen oder anderen Form kein Weg vorbeiführt. Wer anderes behauptet, gibt sich rechtlichen Illusionen hin – oder muss bewusst auf den Bilateralismus, wie wir ihn heute kennen und zu unserem Vorteil nutzen, verzichten.

Christa Tobler ist Professorin für Europarecht an den Europainstituten der Universität Basel und der Universität Leiden.

60 Kommentare
Sven Maag

Nachdem wir in letzter Zeit gesehen haben wie sich das Konstrukt Brüssels auswirkt, kommt eine Unterwerfung unter den EuGH mit absoluter Sicherheit nicht mehr in Frage. Ganz egal wo man politisch steht.

Thomas Kraus

Die Schweiz ist nicht Mitglied des Binnenmarkts und will es auch nicht werden. Darum ist eine Unterstellung unter den EuGH absurd. Soweit ich weiss, hat sich Kanada im Rahmen des Freihandelsabkommens nicht dem EuGH unterworfen. Man muss einfach das Spektrum der instituionellen Optionen erweitern und nicht nur in den Strukturen der EU denken.