Interview

«Migrationskirchen könnten eine grosse Bereicherung sein»

Claudia Hoffmann hat in ihrem Buch «Migration und Kirche» Migrationskirchen im Kanton Aargau untersucht. Diese Gemeinden pflegen viele Kontakte zu Freikirchen, auf der Seite der Landeskirchen gibt es hingegen Berührungsängste. Dabei könnten beide Seiten von einem engeren Austausch profitieren.

Ein Gottesdienst des Netzwerkes eritreisch-charismatischer Kirchen in der Schweiz. (Bild: Claudia Hoffmann/zVg)

Claudia Hoffmann, auf welche Migrationskirchen sind Sie im Aargau gestossen?
Man findet eine riesige Breite, von katholischen Missionen über orthodoxe Gemeinden bis zu protestantisch-evangelischen Gemeinden. Sie organisieren sich häufig nach Sprache oder Kultur, wie eine charismatische eritreische Gemeinde zeigt. Andere sind ganz gemischt, hier kommen verschiedene Nationalitäten zusammen. Und es gibt auch traditionelle Schweizer Gemeinden, die eine internationale Öffnung durchlaufen.

Was verbindet diese Gemeinden?
Eigentlich nur ihre Heterogenität. Man kann nie eine Aussage treffen, die für alle zutrifft. Ausserdem bezeichnen sie sich selbst nicht als Migrationskirchen. Das ist eine Bezeichnung von uns Schweizerinnen und Schweizern. Dennoch bleibe ich bei dem Begriff.

Warum?
Die Erfahrung der Migration prägt diese Gemeinden stark. Ausserdem bestehen ein Machtunterschied und Ressourcenungleichheiten gegenüber Schweizer Kirchgemeinden. Um diese Unterschiede zu benennen, muss man einen Namen für die Migrationsgemeinden haben. Ich verwende eine Definition aus einer Studie des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds (SEK), heute Evangelische Kirche Schweiz (EKS). Diese Studie bezeichnet Migrationskirchen als Zusammenschluss von Christinnen und Christen mit Migrationshintergrund, die sich selbst als Kirche verstehen.

Warum braucht es diese Kirchen überhaupt, warum gehen diese Menschen nicht einfach in eine Schweizer Kirche?
Migrationskirchen bieten Stabilität, weil sie ein Stück Heimat geben. Und sie helfen bei der Integration, weil sie Anlaufstellen für Übersetzungsfragen oder Hilfe beim Besuch von Ämtern sind. Diese Kirchen übernehmen Aufgaben, die der Staat nicht bietet.

«Die grosse Offenheit hat mich überrascht. Ich war überall willkommen.»

Wie sind diese Kirchen finanziell aufgestellt?
Gleich wie die Freikirchen erhalten sie keine Steuergelder, sondern leben von der Unterstützung ihrer Mitglieder. Weil Migranten oft in prekären Situationen leben, ist das Geld häufig knapp. Einige erhalten noch Beiträge von Verbänden, Kirchgemeinden oder internationalen Netzwerken.

Zur Person

Claudia Hoffmann (44) ist Interkulturelle Theologin und Pfarrerin. Im Rahmen ihrer Tätigkeit an der Universität Basel untersuchte sie Migrationskirchen im Kanton Aargau, daraus entstand das Buch «Migration und Kirche – Interkulturelle Lernfelder und Fallbeispiele aus der Schweiz», erschienen im TVZ-Verlag. Zurzeit arbeitet die Mutter zweier Töchter an einem SNF-Forschungsprojekt im Bereich Praktische Theologie an der Universität Basel

Sie haben viele Gemeinden besucht, was hat Sie besonders überrascht oder beeindruckt?
Zuerst ihre grosse Offenheit. Ich war überall willkommen. Die Leute waren sehr gesprächsbereit und man hat sofort versucht, mir eine Übersetzung zu organisieren. Ich war auch überrascht, wie gut vernetzt die Gemeinden sind. Viele von ihnen sind in der Schweizerischen Evangelischen Allianz vertreten. Diesen Bereich der Schweizer Kirchenlandschaft kannte ich bisher noch nicht so gut und habe damit einen neuen Zugang erhalten. Ich konnte selbst Berührungsängste abbauen.

Warum funktioniert der Kontakt mit Freikirchen besser?
Verbindend ist etwa der Wunsch zu missionieren. Zudem sind viele Migrationskirchen charismatisch und/oder evangelikal geprägt. Charismatisch ist etwa die Betonung des Heiligen Geistes und der Heilung. Der Fokus auf der Bibel, das Leben nach der Schrift ist ein wichtiges Merkmal von evangelikalen Gemeinden. Das findet man in der Schweiz eher im freikirchlichen Milieu.

Gibt es denn von der Landeskirche aus ein Interesse, auf diese Migrationsgemeinden zuzugehen?
Von Einzelpersonen ja, in der Breite eher nicht. Wenn Kontakte bestehen, dann oft, indem Landeskirchen den Migrationskirchen helfen. Beziehungen, die nur auf Helfen basieren, bleiben aber oft einseitig und sind durch ein Machtgefälle geprägt. Manchmal wird noch versucht, gemeinsam zu feiern. Das bringt aber häufig Schwierigkeiten mit sich.

«Man kann nicht erwarten, dass sich dadurch wieder unsere Kirchenbänke füllen. Aber die Begegnung könnte eine grosse Bereicherung sein.»

Welche?
Beim gemeinsamen Gottesdienst müssen viele Fragen geklärt werden: Welche Musik benutzen wir? Welche theologischen Schwerpunkte setzen wir? Häufig bestehen von den Schweizer Kirchen grosse theologische Vorbehalte. Das ist sicher berechtigt. Aber trotzdem kann man ins Gespräch kommen.

Muss denn die Landeskirche auf Migrationskirchen zugehen?
Man kann nicht erwarten, dass sich dadurch wieder unsere Kirchenbänke füllen. Aber die Begegnung könnte eine grosse Bereicherung sein und man könnte viel voneinander lernen.

Inwiefern?
Etwa, wenn es um das Gebet, Heilung oder Mission geht. Gerade das Gebet ist ein sehr niederschwelliges Themenfeld, wo man gut ins Gespräch kommen kann. Wie betet man eigentlich? Was bedeuten die Gebete? Oder auch beim Thema Mission. Die Landeskirche hat damit einige Mühe, ob das berechtigt ist, wäre noch zu diskutieren. Durch den Kontakt mit Migrationskirchen könnte es da zu einem unverkrampfteren Umgang kommen.

«Ich betone das Aufeinanderzugehen so stark, weil ich finde, dass das manchmal zu kurz kommt. Zu Beginn werden immer gleich die Grenzen abgesteckt. Da verpasst man viele Chancen.»

Sie plädieren dafür, in Kontakt zu kommen und voneinander zu lernen. Gibt es Grenzen für Sie?
Mir war es ab und zu unangenehm in Gottesdiensten, etwa wenn Heilungen durchgeführt wurden. Für mich war das eine Grenze. Auch Diskriminierung, etwa von Frauen oder Homosexuellen, kann ich nicht akzeptieren, oder die Verdammung der Abtreibung. Aber ich habe bis jetzt nur ein Mal erlebt, dass deshalb das Gespräch nicht mehr möglich gewesen wäre. Ich betone das Aufeinanderzuzugehen so stark, weil ich finde, dass das manchmal zu kurz kommt. Zu Beginn werden immer gleich die Grenzen abgesteckt und man verdächtigt die Gemeinden pauschal, Missbrauch zu betreiben. Da verpasst man viele Chancen.

Welche?
Diese Begegnungen lehren uns viel. Diese Gemeinden sind Fenster und Spiegel gleichzeitig. Sie eröffnen uns den Blick in die weltweite Christenheit. Zudem lehren sie uns viel über uns selbst. Mir wurde zum Beispiel bewusst, dass ich ruhige schlichte Gottesdienste gerne mag. Aber ich habe auch entdeckt, dass ich beim Lobpreisen gut mitgehen kann, obwohl ich das vorher fürchterlich fand. Mir passt oft die Theologie nicht ganz, aber es entsteht dadurch ein starkes Gemeinschaftsgefühl.

«Zwischen Kirchen und Migrationskirchen muss es nicht immer harmonisch sein, vielleicht streitet man sogar und läuft davon.»

Wie kann denn ein Gespräch funktionieren, trotz der Unterschiede?
Ich benutze dafür das Bild des Treppenhauses, wo sich Landeskirchen und Migrationskirchen treffen könnten. Das Treppenhaus ist nach oben und unten offen, man muss besprechen, wo man sich treffen will. Die Fluchtwege sind gekennzeichnet, damit man weiss, wie man wieder rauskommt. Ausserdem gelangt man aus verschiedenen Zimmern in ein Treppenhaus, bildlich gesprochen für die verschiedenen Voraussetzungen. Zudem ist dieser Raum auch mit negativen Assoziationen behaftet. Der Abfallkorb steht dort, man hört den Streit von überall her. Zwischen Kirchen und Migrationskirchen muss es also nicht immer harmonisch sein, vielleicht streitet man sogar und läuft davon. Aber nur so kann man auf Augenhöhe voneinander lernen für ein neues Miteinander.