Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Das Märchen von den Rettern und vom «Pull-Faktor»

Ob sie sich ins Schlauchboot setzen, hängt nicht davon ab, wie viele Rettungsschiffe unterwegs sind: Gerettete Migranten im Hafen von Messina. Foto: Gabriele Maricchiolo (Getty Images)

Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.

An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.

Kein anderer Vorwurf wird gegenüber privaten Seenotrettern auf der zentralen Mittelmeerroute häufiger erhoben als jener, sie seien ein «Pull-Faktor». Dass NGO-Schiffe wie die Sea-Watch oder die Open Arms vor der libyschen Küste Migranten aus Gummibooten retten und nach Italien bringen, so die Anschuldigung, verleite Flüchtlinge erst recht zum Aufbruch und trage deshalb dazu bei, die Zahl der Überfahrten zu steigern – und dadurch auch die Zahl der Ertrunkenen.

Das Argument hat eine unbestreitbare intuitive Plausibilität: Je sicherer jemand sein kann, aus einer riskanten Situation befreit zu werden, desto grösser dürfte seine Bereitschaft sein, das Risiko einzugehen. 2017 schrieb die europäische Küstenwache Frontex, Rettungsaktionen von NGOs trügen dazu bei, dass Schlepperbanden «ihr Ziel mit minimalem Aufwand erreichen», was das «Business-Modell» der Kriminellen stärke.

Zwei englische Studien aus dem Jahr 2017 kamen indessen zum Schluss, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Präsenz von Rettungsschiffen vor der libyschen Küste und der Zahl der Überfahrten gebe. Beide Untersuchungen beruhten jedoch auf geringem Datenmaterial.

Das Wetter spielt eine Rolle, Rettungsschiffe nicht

Eine neue Studie gelangt nun zum selben Ergebnis: Der Pull-Faktor ist, um einen Modeausdruck zu verwenden, Fake News. Die italienischen Migrationsforscher Eugenio Cusumano und Matteo Villa haben für das in Fiesole beheimatete Europäische Hochschulinstitut sämtliche verfügbaren internationalen und italienischen Daten zwischen Oktober 2014 und Oktober 2019 auf einen Pull-Effekt untersucht, mit negativem Resultat.

Laut der italienischen Zeitung «Repubblica» gab es bisher keine so umfassende und systematische Auswertung. Besonders genau untersuchten die Forscher den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 27. Oktober 2019. Sie überprüften Tag für Tag, ob private Rettungsschiffe vor den libyschen Küsten unterwegs waren und wie viele Flüchtlingsboote jeweils die Überfahrt versuchten. Auch hier wieder: Keine Korrelation zwischen NGO-Schiffen und angestrebten Überfahrten. Kein Pull-Faktor. Stark sei hingegen die Korrelation mit dem Wetter.

Obwohl die Autoren weitere Untersuchungen anmahnen, fordern sie, die Seenotretter nicht mehr zu behindern.

Die Denkschablone vom «Gutmenschen»

Das dürfte sich als Illusion erweisen, passt doch die Pull-Faktor-These in eine der beliebtesten rechten Denkschablonen: jene vom «Gutmenschentum». Gutmenschen sind demnach Moralisten, die in ihrer Naivität das Gute wollen, nämlich, im Falle der Seenotretter, Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren. Die aber das Schlechte bewirken, weil ihretwegen die Zahl der Toten steige. Das Argument lässt sich scheinbar auf das Wertesystem der Kritisierten ein, um sie genau dadurch an ihrer empfindlichsten Stelle zu treffen. Es verkehrt das angeblich Gute in sein Gegenteil, und je intensiver die Gutmenschen nach dieser Logik ihre Ziele verfolgen, desto verheerender das Resultat.

Um die Anschuldigung zu verschärfen, braucht man bloss den Anteil des angeblich «Gutgemeinten» zu verringern und jenen der kriminellen Energie zu erhöhen. Diese verleite Seenotretter im Namen einer höheren Moral dazu, das Gesetz zu brechen, indem sie etwa widerrechtlich in einen Hafen einlaufen. Oder – eine weitere Verschärfung des Vorwurfs – indem sie direkt mit den Schlepperbanden zusammenarbeiten, womöglich sogar aus finanziellen Interessen.

Keine Komplizenschaft mit Schleppern

Trotz intensiver Ermittlungen ist es der italienischen Staatsanwaltschaft bisher nicht gelungen, Beweise für die angebliche Komplizenschaft zwischen NGOs und libyschen Schlepperbanden zu finden. Und noch nie hat die italienische Justiz Seenotretter verurteilt. Stattdessen ist sie – etwa im Fall der Cap Anamur vor zehn Jahren oder diesen Sommer bei der deutschen Kapitänin Carola Rackete – zu Freisprüchen gelangt, aufgrund des internationalen Seerechts, der Genfer Flüchtlingskonventionen sowie verfassungsrechtlicher Bestimmungen. Oder sie hat die Verfahren eingestellt.

Zwar gibt es noch laufende Prozesse. Schon jetzt aber lässt sich sagen, dass es verlogen ist, wenn NGO-Kritiker auf Recht und Gesetz pochen, um dann unter krasser Missachtung der Unschuldsvermutung und bisheriger Gerichtsurteile sowie aufgrund herbeifantasierter Pull-Effekte irgendwelche haltlosen Anschuldigungen in die Welt zu setzen.