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Europa Fiesole in Italien

Ob Pest oder Corona – die Toskana spendet Trost

Während einer Pandemie ist kultivierter Eskapismus heilsam. Das ahnte schon eine Clique junger Leute, die um 1350 aus Florenz vor der Pest floh – und in Selbstisolation Weltliteratur schuf. Eine Spurensuche in der Toskana.
Toskana (Italien): Florenz wurde gegen 1350 von der Pest heimgesucht; 60 bis 80 Prozent der damals rund 100.000 Einwohner starben Toskana (Italien): Florenz wurde gegen 1350 von der Pest heimgesucht; 60 bis 80 Prozent der damals rund 100.000 Einwohner starben
Florenz wurde gegen 1350 von der Pest heimgesucht; 60 bis 80 Prozent der damals rund 100.000 Einwohner starben
Quelle: Getty Images

Der Welt- und Reiseliteratur würden ohne Pandemien, Krankheiten und Keime aller Art Leitmotive fehlen. Man denke beispielhaft an die „Liebe in den Zeiten der Cholera“ von Gabriel García Márquez, 1982 mit dem Nobelpreis geehrt.

An Albert Camus’ „Die Pest“ (Nobelpreis 1957). Oder natürlich an Thomas Mann, der sich an einem denkbar breiten Spektrum der Infektionskrankheiten abarbeitete: der Cholera in der „Der Tod in Venedig“, der Tuberkulose in „Der Zauberberg“, der Syphilis und Meningitis in „Doktor Faustus“.

Doch ob nun die Pest, die Cholera oder gar, wie 2020, Corona – die kecke Formulierung von Camus bleibt gültig: „Diese Schweinerei von einer Krankheit! Sogar die, die sie nicht haben, tragen sie im Herzen!“ Indes gebe es, so der Dichter, „Städte und Länder, die einem in der Krankheit beistehen, wo man sich gewissermaßen gehen lassen kann“.

Die Toskana bietet Ruhe in Zeiten von Corona

Eine solche Trost spendende Landschaft ist die Toskana, einer der Sehnsuchtsorte der deutschen Seele schlechthin. Gefühlt das Paradies, in dem allerspätestens seit Goethe die Zitronen blühen.

Und sollte es im Tohuwabohu des aktuellen globalen Infektionsgeschehens tatsächlich ein stilles Örtlein geben, das einem in der Pandemie beizustehen vermag, so ist es vielleicht Fiesole – idyllisch gelegen in den mit Pinien, Zypressen und Olivenhainen geschmückten Hügeln vor Florenz.

Natürlich hat Corona in Italien – nach Spanien in normalen Zeiten das beliebteste Reiseland der Deutschen – erhebliche Spuren hinterlassen. Die Schreckensbilder aus Bergamo im Frühjahr verblassen langsam, doch die Tourismusbranche leidet bis jetzt.

Toskana (Italien): Die Edelherberge „Villa La Massa“ residiert in einem opulenten Renaissanceanwesen bei Florenz
Die Edelherberge „Villa La Massa“ residiert in einem opulenten Renaissanceanwesen bei Florenz
Quelle: Getty Images

„Für Italien ist es gerade eine harte Zeit“, sagt Tamara Trambusti, die seit gut 40 Jahren in der „Villa La Massa“ als gute Seele, als das Mädchen für alles arbeitet. Die Edelherberge residiert in einem opulenten Renaissanceanwesen bei Florenz an einer Biegung des Flusses Arno.

„Die Stadt ist ziemlich leer“, sagt Trambusti, „aber sie ist noch am Leben!“ Womit sie wohl meint: Wird alles schon gut, schließlich hat man schon einiges anderes durchgemacht.

In Florenz starben viele an der Pest

Zum Beispiel die Pest, die in der italienischen Kunstepoche des Trecento Mitte des 14. Jahrhunderts über Italien hereinbrach wie ein Gottesgericht. Der Schwarze Tod, verursacht vom Bakterium Yersinia pestis, raffte zu der Zeit ungefähr ein Drittel aller Menschen in Europa dahin.

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In Florenz – Boomtown, schwerreich, Zentrum von Kultur und Künsten – starben 60 bis 80 Prozent der damals rund 100.000 Einwohner. Eine Entvölkerung. Die Covid-19-Pandemie verläuft verglichen damit – man muss es im historischen Rückblick so einordnen – zum Glück weniger folgenschwer.

Giovanni Boccaccio, der stilprägende italienische Schriftsteller, beschrieb den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung am Arno, das eskalierende und bald allgegenwärtige Chaos. Die Hilf- und Ahnungslosigkeit der Ärzte und Gelehrten, der Angehörigen, der Priester, Gläubigen, Gottesfürchtigen.

Netflix und andere Streamingdienste, die auf Knopfdruck Digitalunterhaltung senden, gab es damals selbstverständlich ebenso wenig wie Bingewatching, also das stundenlange Anschauen von Fernsehserien. Aber es gab Boccaccios „Dekameron“, eine Sammlung von schier endlos vielen Novellen, die der Schriftsteller zur Unterhaltung schuf. Ein Meisterwerk, eine Grundfeste der Weltliteratur, eine Art Netflix-Vorläufer der Renaissance-Ära.

Freiwillige Quarantäne in Fiesole

Die Rahmenhandlung dieser Anthologie ist der Pest geschuldet. Zehn junge Leute – sieben Frauen, drei Männer – ziehen sich angesichts des Unheils in ihrer Stadt in ein Refugium in der Umgebung zurück, in Selbstisolation, die freiwillige Quarantäne. Und zwar nach Fiesole, in tiefster vorchristlicher Zeitrechnung von Etruskern begründet und damit älter als Florenz.

In einer Villa mit Garten ergötzen sie sich mit Geschichten, machen es sich gemütlich – und zwar zehn Tage lang mit jeweils zehn Storys. Was zugleich den Namen des ersten Prosawerks der italienischen Literatur erklärt: „Dekameron“ bedeutet übersetzt aus dem Griechischen so viel wie „Zehn-Tage-Werk“.

Fiesole liegt idyllisch in den mit Pinien, Zypressen und Olivenhainen geschmückten Hügeln vor Florenz (Toskana, Italien)
Fiesole liegt idyllisch in den mit Pinien, Zypressen und Olivenhainen geschmückten Hügeln vor Florenz
Quelle: pa/DUMONT Bildar/Christina Anzenberger-Fink, Toni Anzenberger

Das Landhaus, die Villa Schifanoia, in dem Boccaccio die Handlung ansiedelt, steht längst nicht mehr. Wohl aber eine wiederaufgebaute Villa Schifanoia. Das Grundstück gehörte zur Zeit der Pest mutmaßlich zur heute benachbarten Villa Palmieri.

Es gebe nicht den geringsten Beweis, dass Boccaccio auch in der Villa Schifanoia schrieb, sagt die Kunsthistorikerin Laura Bechi vom Europäischen Hochschulinstitut, das die Villa Schifanoia verwaltet. Aber „wahrscheinlich schrieb Boccaccio in der Villa Palmieri. Nur wissen wir das nicht genau.“

Gott, Mord, Sex – Giovanni Boccaccio sparte nichts aus

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Immerhin heißt die Straße, an der die Villa Schifanoia liegt, Via Boccaccio, und auch der Name ist treffend, denn „Schifanoia“ bedeutet übersetzt „der Langeweile entfliehen“. Rund um diesen Ort literarischer Höchstleistung dürfte es um Unterhaltung, Weltflucht, Zeitvertreib gegangen sein, um ein Verdrängen des Infektionsgeschehens vor der Haustür und ein Zurandekommen mit Plagegeistern, Panikattacken und Depressionen.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Quarantäne, seit Monaten in unserer Zeit in aller Munde, ihren Ursprung in jener Epoche hat. In Italien, wo 1347 eine erste pestinfizierte Ratte von Bord eines Handelsschiffes huschte, wurde erstmals eine „quarantena“ verhängt, eine 40-tägige Zwangsisolation der Besatzung an Bord, um eine Ausbreitung der Krankheit zu verhindern.

Inhaltlich zeichnen die 100 Novellen des „Dekameron“ ein facettenreiches Sittenbild, das den damals bekannten Erdkreis, alle Gesellschaftsgruppen und sämtliche menschliche Gefühlslagen abdeckt. Boccaccio „war ein sehr moderner Schreiber“, sagt Bechi, noch heute aktuell.

Das Werk sei sehr menschlich: Es versammelt Geschichten voll Saft und Kraft und Sturm und Drang und Gott und Papst und Mord und Totschlag und Sex, hetero wie homo. Die großen Fragen des menschlichen Seins eben – und das auf launig-realistische Weise, sogar mit gewissem Witz. Das italienische Wort „boccaccesco“ ist heute gleichbedeutend mit „schlüpfrig“.

Die Villa Schifanoia thront über einem Park

Fiesole ist im 21. Jahrhundert, nicht anders als im Trecento, ein eleganter Vorort von Florenz und eine der reichsten Gemeinden der Toskana. Literarisch und kulturell spielt das Städtchen mit heute ungefähr 14.000 Einwohnern in der ersten Liga – und nicht nur dank Boccaccios kreativem Wirken in Zeiten größter Not.

Der englische Schriftsteller Edward Morgan Forster ließ einen Teil seines „Zimmer mit Aussicht“ (1908) hier spielen, Hermann Hesse fand für seinen Romanerstling „Peter Camenzind“ (1904) Inspiration.

Die Villa Schifanoia in Fiesole bei Florenz (Toskana, Italien)
Ort der Weltliteratur: die Villa Schifanoia in Fiesole
Quelle: Michael Braun Alexander

In jüngerer Zeit haben mehrere elitäre Hochschulen in den Hügeln von Fiesole Dependancen gegründet, so die Harvard University mit Hauptsitz in Cambridge bei Boston und die Georgetown University aus Washington D. C.

In der Villa Schifanoia wiederum, stilistisch der klassisch orientierten Anmut der Renaissance verbunden und über einer Parkanlage thronend, sitzt nun das Europäische Hochschulinstitut, EUI. Dessen Studierende hätten sich während des mehrmonatigen Lockdowns in Italien durchaus gefühlt, „als hätte man sie in Boccaccios Zeit zurückversetzt“, sagt EUI-Sprecher Roeland Scholtalbers. Abgeschottet. Und ganz schön lange eingesperrt.

Italienisches Dolce Vita vor den Toren der Stadt

Und hier und heute? Wer seinem Eskapismus in Florenz und Umgebung freien Lauf lassen will – nur zu, eine gute Idee –, der sollte die folgenden Empfehlungen beherzigen. Erstens: Boccaccio-Lektüre statt Komaglotzen! Macht Spaß und schlau, noch heute.

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Zweitens: Florenz’ Museen sind geöffnet und infolge von Corona relativ wenig besucht – gegenüber dem Übertourismus aus vorpandemischen Zeiten ein willkommener Kollateraleffekt. In den Uffizien „haben wir momentan nur etwa zwei Drittel der Besucherzahlen“, sagt ein Sprecher der Florentiner Museen, „an manchen Werktagen sogar nur ein Drittel.“ Es ist Jahrzehnte her, dass man „Die Geburt der Venus“ des Renaissancemalers Sandro Botticelli und zahllose andere Meisterwerke so unbedrängt und entspannt besichtigen konnte.

Uffizien in Florenz: Es ist lange her, dass man „Die Geburt der Venus“ von Sandro Botticelli so entspannt besichtigen konnte
Es ist lange her, dass man „Die Geburt der Venus“ von Sandro Botticelli so entspannt besichtigen konnte
Quelle: Getty Images

Drittens spricht vieles dafür, in Sachen Unterkunft pragmatisch vorzugehen und sich mit gesundem Menschenverstand vor den Toren der Stadt quasi selbst zu isolieren. Etwa bei der oben zitierten Signora Trambusti an der malerischen Biegung des Flusses, vor deren Landhaus es reichlich Platz für jeden Gast gibt, Social Distancing de luxe. Diese Villa oder jene literarische hoch oben in Fiesoles Hügeln sind bis auf Weiteres ideale Refugien, um italienisches Dolce Vita zu zelebrieren – während die Reisebranche ihre Renaissance noch herbeisehnt.

Und wenn jemand angesichts all der Plagen in der Welt nun an Wilhelm Busch denkt, an seinen herrlich verharmlosenden Reim „Es ist ein Brauch von alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör“ – dem sei für die alkoholische Dimension der Weltflucht Sangiovese empfohlen, die Hauptrebe der Toskana, nach dem „Blut des Jupiter“ benannt, Gottesblut also, und Hauptzutat des Chianti.

Ja, auch im Wein steckt Trost in Zeiten der Not. Das wusste schon Literat Camus: „Um die Wahrheit zu sagen“, schrieb er in „Die Pest“, „man trank viel.“ Salute!

Fiesole bei Florenz in der Toskana (Italien)
Quelle: Infografik WELT

Tipps und Informationen

Anreise: Nach Florenz, Hauptstadt der Toskana, ist man mit dem Auto ab Hamburg, Berlin oder Köln zwischen 12 und 16 Stunden unterwegs, ab München sind es noch 6,5 Stunden; wer von dort den Nightjet-Zug nimmt, ist in 10,5 Stunden über Nacht vor Ort (nightjet.com). Nonstop-Flüge bieten ab Frankfurt etwa Lufthansa (lufthansa.com) und Air Dolomiti (airdolomiti.de) an.

Unterkunft: Die „Villa La Massa“ ist ein luxuriös-stilvolles Refugium. In 20 Minuten gelangt man per Rad am Ufer des Arno entlang in die Innenstadt von Florenz, Doppelzimmer ab 490 Euro inklusive Frühstück (villalamassa.it). Günstige Alternative in der Stadt ist das „Hotel Cellai“, Doppelzimmer inklusive Frühstück ab 70 Euro (hotelcellai.it)

Tipps vor Ort: Aus gegebenem Anlass empfiehlt sich als Reiselektüre Giovanni Boccaccios „Dekameron“, um 1350 zur Zeit der Pest verfasst und noch immer erstaunlich frisch. Nicht verpasst werden sollte ein Besuch der Villa Schifanoia in Fiesole, heute Sitz des Robert Schuman Centre for Advanced Studies des European University Institute (eui.eu/rscas); der Eintritt ist frei, um telefonische Anmeldung wird gebeten (+39554685550). Die Uffizien sind geöffnet; Eintritt regulär: 20 Euro (uffizi.it).

Aufkunft: visittuscany.com/de

Die Recherche wurde unterstützt von Villa La Massa (Candeli). Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter axelspringer.de/unabhaengigkeit.

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