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  • Wirtschaft & Menschenrechte
  • 02/2021
  • Thandiwe Matthews

Sind Menschenrechte beim Streben nach wirtschaftlicher Entwicklung verzichtbar?

Nein. Erst eine liberale Demokratie ermöglicht auch eine gerechte Umverteilung der Mittel. Menschenrechte sind dafür ein wirksames Instrument.

Im sudanesischen Darfur demonstrieren Frauen für ihre Rechte. Seit Diktator Omar al-Bashir 2019 abgesetzt wurde, wird das Land wirtschaftlich und politisch weniger geächtet. © UN Photo / Olivier Chassot

Nach den Millionen Toten und Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges verpflichteten sich die Staaten, eine Welt zu schaffen, in der Menschenrechte und individuelle Freiheiten für alle garantiert werden, so wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) festgelegt sind. Doch 73 Jahre nach Verabschiedung der Erklärung, der sich bis heute 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen angeschlossen haben, muss man feststellen, dass die Menschenrechte weltweit zunehmend missachtet werden, weil die Staatengemeinschaft dabei versagt, mächtige staatliche wie nichtstaatliche Akteure für Verletzungen dieser Rechte zur Rechenschaft zu ziehen. Gleichzeitig wurde versäumt, die Geltung der Menschenrechte auf alle Bürger zu erweitern, ganz unabhängig davon, welchen Status sie in der Gesellschaft haben.

Nun argumentieren die Befürworter der Demokratie, dass sich die Konzentration der Macht in wenigen Händen und ein ungleicher Zugang zu staatliche Leistungen nur in einem funktionierenden demokratischen Staat vermeiden lasse. Dessen Verfassung schreibt rechtsstaatliche Prinzipien für seine Bürger fest, garantiert eine Rechenschaftspflicht und sorgt für die Wahrung wesentlicher bürgerlicher und individueller Freiheiten. Eine solche Ordnung definiert auch die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative, schützt das Privateigentum, fördert eine offene Marktwirtschaft und setzt regelmäßig freie und faire Wahlen an (Evans, 2001).

Doch trotz des Werbens für die Demokratie und die mit ihr verknüpften Institutionen der Regierungsführung ist die Mehrheit der Weltbevölkerung gezwungen, unter schwierigen Alltagsbedingungen zu überleben. Auf dem afrikanischen Kontinent werden rechtswidrige Inhaftierungen, Verhöre und Folter durch verschiedenste Gesetze im Namen der Staatssicherheit legitimiert. Bürger werden von staatlicher wie privater Seite allen möglichen Formen der Gewalt unterworfen, dazu zählen verbreitet Ermordungen, Entführungen, sexueller Missbrauch, Massenvertreibungen und andere im internationalen Recht definierte Verbrechen. Dies muss vor allem in einem Kontext unhaltbar ungleicher Verteilung von Reichtum und Einkommen Besorgnis erregen, erst recht in Zeiten sich vertiefender Armut und hartnäckiger Unterbeschäftigung, die durch die Corona-Pandemie (Covid-19) noch weiter verschärft wird.

Zugleich bekennen sich auch Staaten mit einer fragwürdigen Bilanz bei der Einhaltung der Menschenrechte zu dem Ziel, die materiellen Bedingungen ihrer Bürger zu verbessern. Ein zwingender Zusammenhang zwischen Menschenrechten und der Förderung der Demokratie wird dabei häufig infragegestellt. Dies gilt besonders für die ideologischen Spannungen bei der Diskussion um bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Welche Rechte davon für die Förderung der Demokratie wesentlich sind und wer aus ihnen Nutzen ziehen sollte, wird kontrovers diskutiert.

Wirtschaftliche und soziale Teilhabe

Wenn es nach einigen Kritikern der Menschenrechtsagenda geht, wird zu oft hauptsächlich darauf geachtet, ob ein Staat individuelle Freiheiten oder die Partizipation der Mitglieder einer Gesellschaft an einer offenen und freien Marktwirtschaft einschränkt. Vor allem eine liberale Demokratie legt Wert auf die gleiche politische, wirtschaftliche und soziale Teilhabe aller Bürger einer Gesellschaft, frei von Diskriminierung. Kritiker dieser auf das Individuum fokussierten Sichtweise argumentieren, dass Menschenrechte zwar für eine Demokratie wesentlich sind, aber nicht Werkzeuge Einzelner sein dürfen, allein ihre eigenen Interessen zu verteidigen. In der Tat gehören die wohlhabenden Demokratien zu den Ländern mit der größten Ungleichheit weltweit. Die mehr als 2000 Milliardäre der Erde besitzen so viel Vermögen wie etwa 60 Prozent der Weltbevölkerung zusammen. 

Hingegen kann eine Betonung der Menschenrechte und vor allem die Anerkennung und Respektierung bürgerlicher, politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte durch Staaten einen ganzheitlicheren Begriff von Demokratie befördern, der die Interessen aller Mitglieder einer Gesellschaft schützt (Matthews, 2019).

Aber selbst wenn das volle Spektrum von Menschenrechten - also bürgerliche, politische wie auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte - anerkannt wird, bleibt ihre Umsetzung oft lückenhaft. Dies wirft die Frage auf, ob das angestrebte Ziel erreicht wird. Südafrikas Verfassung etwa garantiert ein Recht auf ausreichend Nahrung und Wasser ohne Diskriminierung. Sie erhielt für ihre Fortschrittlichkeit und die Einklagbarkeit aller Menschenrechte großes Lob - aber dennoch ist die Ungleichheit in Südafrika so groß wie kaum sonstwo auf der Erde. 

Durch den Anstieg der Lebensmittelpreise können sich die Menschen nur noch das Nötigste leisten, Simbabwe.
Eine Kleinbäuerin in Simbabwe an ihrem Marktstand. Viele Arme suchen im benachbarten Südafrika ein besseres Leben. © Brazier / Welthungerhilfe

Mehr als die Hälfte der Kinder leben dort unter der nationalen Armutsgrenze, die bei 585 südafrikanischen Rand oder etwa 32 Euro liegt. Unicef hat ermittelt, dass mindestens 1,5 Millionen Kinder wachstumsgehemmt sind. 30 Prozent der Kinder leben in Haushalten, in denen kein Erwachsener ein Erwerbseinkommen hat, vielen fehlt auch bei ausreichendem Einkommen der Sorgeberechtigten der Zugang zu gesunden und nahrhaften Lebensmitteln. Nach Angaben der südafrikanischen Menschenrechtskommission leben mehr als elf Millionen Menschen in Südafrika ohne Ernährungssicherheit. 25 Prozent der weltweit an Hunger leidenden Menschen leben in Subsahara-Afrika. Der fehlende Zugang zu Nahrung trägt wesentlich zu Kindersterblichkeit und dem permanenten Auftreten chronischer Krankheiten wie Tuberkulose, HIV/Aids und Malaria in der Region bei.

Ruanda hat von internationalen Organisationen wie der Weltbank und den Vereinten Nationen viel Lob erhalten, weil das Land nach dem Genozid von 1994 solche Fortschritte gemacht hat. Es wird vorhergesagt, dass das Land bis 2035 zu den Staaten mit mittlerem Einkommen und bis 2050 zu denen einkommensstarken zählen wird. Es wird erwartet, dass sich das deutliche Wirtschaftswachstum trotz der Störung durch die Covid-19-Pandemie fortsetzt.

Wirtschaftlicher Erfolg: In der Reismühle Gafuso warten Stapel von Säcken auf ihren Abtransport. © Pilar / Welthungerhilfe

Zwar hat Ruanda keinen direkten Zugang zum Meer, liegt in einer Region voller Konflikte und Gewalt und ist weiterhin von internationaler Hilfe abhängig. Aber es wird als einer der afrikanischen Staaten gefeiert, die bei den UN-Millenniums-Entwicklungszielen (MDG) und den daraus hervorgegangenen Nachhaltigkeitszielen (SDG) besonders erfolgreich sind. Das Gender Gap in Politik und Wirtschaft schrumpft, die kostenlose Schulbildung wurde von 9 auf 12 Jahre ausgedehnt, der Anteil der Bevölkerung, der Hunger leidet, wurde ebenso halbiert wie der der unter der nationalen Armutsgrenze Lebenden. Der Zugang zu Trinkwasser und sanitären Einrichtungen wurde verbessert, die Kindersterblichkeit ist deutlich gesunken, und Aufforstungsprojekte tragen zur ökologischen Nachhaltigkeit bei (Matthews & Pakati, 2018).

Doch gleichzeitig zeichnen internationale Menschenrechtsorganisationen ein ganz anderes Bild von Ruanda. Sie werfen der zivilen und militärischen Führung unter Paul Kagame – Ruandas Präsident seit 2000 – vor, kritische Stimmen einzuschüchtern und zu bedrohen. Mitglieder der Opposition und Journalisten sind Berichten zufolge verschwunden oder kamen unter mysteriösen Umständen ums Leben. Willkürliche Inhaftierungen, Misshandlungen und Folter gehen in zahlreichen Haftanstalten des Landes weiter. 2018 nahmen die Behörden mehr als 60 Geflüchtete fest und warfen ihnen vor, sich an illegalen Demonstrationen beteiligt zu haben, zur Gewalt gegen Amtsträger aufgerufen und sich den Anordnungen der Polizei widersetzt zu haben.

Ruandas Präsident Paul Kagame und seine Frau entzünden jedes Jahr eine Flamme der Erinnerung im Gedenken an den Genozid gegen die Volksgruppe der Tutsi 1994. © Kagame via Flickr

Kritik an drakonischem Stil

In ähnlicher Weise wird China immer wieder von demokratischen Staaten für seinen vorgeblich drakonischen Stil der Machtausübung kritisiert. Dem Land sind unterschiedlichste  Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen worden, darunter Angriffe auf Verteidiger der Menschenrechte, globale Zensur und Überwachung sowie Umweltzerstörung. Heftige Proteste gab es wegen Chinas Unterdrückung der muslimischen Minderheit der Uighuren in der Provinz Xinjiang. Die Vorwürfe drehen sich um willkürliche Masseninhaftierung, Konzentrationslager, Folter, erzwungene Massenindoktrination und umfassende Überwachung. Menschenrechtsgruppen haben Peking aufgefordert, der internationalen Gemeinschaft eine unabhängige Beobachtung und Berichterstattung über die Vorwürfe zu ermöglichen, aber dies wird aller Voraussicht nach abgelehnt.

Auch wenn die internationalen Kritik anhält, setzt sich der Wirtschaftsaufschwung Chinas fort und produziert genug Güter, um bislang mehr als 850 Millionen Menschen aus der Armut zu befreien. Chinas Wirtschaft ist die zweitgrößte der Welt und hat dem Land eine gewichtige Position in den Debatten um globale politische und wirtschaftliche Entwicklung verschafft. Auch wenn davon ausgegangen wird, dass das Land das neue Corona-Virus vor allem wegen seiner autoritären Regierungsführung schnell unter Kontrolle gebracht hat, gibt es Stimmen, die auf die nationale Priorität verweisen, die in China der öffentlichen Gesundheitsversorgung eingeräumt wird. Das Land hat aus den Unzulänglichkeiten des bisherigen Systems gelernt, die durch die Sars-Epidemie von 2002/03 offensichtlich geworden waren. In der aktuellen Pandemie wurden harte Lockdowns und Quarantäne für mehr als 50 Millionen Einwohner durchgesetzt. Dazu wurde ein ausgeklügeltes System der Krankheitsüberwachung entwickelt, das in Zukunft gegen derartige Masseninfektionen eingesetzt werden soll.

Diese Maßnahmen waren aber nicht ohne Einschränkungen bürgerlicher Freiheitsrechte möglich. Als Mediziner im Dezember 2019 öffentlich vor einem neuen Coronavirus warnten, wurden sie zum Schweigen verpflichtet. Es gab Berichte, dass Dr. Li Wenliang, der später dem Virus erlag, von den chinesischen Behörden gemaßregelt wurde, nachdem er in den sozialen Medien vor einer neuartigen grippeähnlichen Krankheit gewarnt hatte, die tödliche Folgen haben könne. Im Januar 2021 sträubte sich China trotz internationaler Appelle zur Zusammenarbeit im Kampf gegen die Pandemie lange gegen die Einreise eines von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beauftragten Teams von Spezialisten, die den Ursprung des Virus erforschen sollten. Nach weltweiter Verurteilung dieser Weigerung konnten einige Experten doch einreisen, während es hieß, dass die ursprünglich entsandten Spezialisten positiv auf Corona getestet worden seien. 

Hongkongs Pro-Demokratie-Bewegung 2019 auf ihrem Höhepunkt. Seither hat der Druck aus der Volksrepublik China auf den Stadtstaat zugenommen, Proteste werden im Keim erstickt. © Studio Incendo, CC BY 2.0 via Wikimedia Commons

Demokratie fundiert auf sozialer Gerechtigkeit

Das Konzept der Menschenrechte wird häufig dafür kritisiert, westlich und "individualistisch" ausgerichtet zu sein. Wenn man die Menschenrechte in der Praxis kritisch betrachtet, ist diese Behauptung nicht von der Hand zu weisen. Menschenrechte sind jedoch Teil sozialer Prozesse und leiten sich im Wesentlichen aus Regeln für zwischenmenschliche Beziehungen ab. Ob Menschenrechte wirkungsvoll durchgesetzt werden, ist daher eine Frage des politischen Willens und der Machtverhältnisse, die in einer Gesellschaft herrschen (Freeman, 2002). 

Verfechter erinnern oft daran, dass die Menschenrechte universell, unveräußerlich, unteilbar und voneinander abhängig sind. Ungeachtet der möglicherweise eingeschränkten Umsetzung fordere das Konzept der Menschenrechte im Wesentlichen den Respekt vor der individuellen Autonomie und fördere zugleich die menschliche Solidarität. 

Wie in den obigen Beispielen dargestellt, haben Staaten einerseits die menschenrechtliche Verpflichtung, ihre Wirtschaft im Sinne von sozialem Fortschritt zu entwickeln, aber andererseits sind die Menschen auch berechtigt, ihre demokratischen Rechte auf Meinungs- und Glaubensfreiheit sowie auf Freiheit von Angst und Not zu genießen. Argumente, dass wirtschaftliche Entwicklung zum materiellen Wohl der Bürger die Einschränkung von Menschenrechten erlaubt, sind daher nicht zu rechtfertigen. Wer so argumentiert, vertritt die Antithese zu den Grundlagen der Demokratie, nämlich dem Streben nach einer Welt, die von Würde, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit für alle Menschen geprägt ist. 

Porträtbild von Thandiwe Matthews
Thandiwe Matthews International Institute of Social Studies, Erasmus University Rotterdam, und University of the Witwatersrand, Südafrika

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