Patienten und Ärzte kämpfen verzweifelt gegen multiresistente Keime, die sich durch Antibiotikamissbrauch in Tierställen und mangelnde Hygiene ausbreiten. Die Agrarlobby wiegelt ab.

1 — Letzte Ausfahrt Holland

Von Klaus Brandt

Margot G. sitzt auf ihrem Sofa und atmet schwer. Ihr Oberkörper wippt vor und zurück, vor, zurück, viermal, fünfmal, sechsmal: "Jetzt!" Sie drückt sich mit Schwung nach vorne, stemmt sich auf die Hand, die den Stock hält, mit der anderen stützt sie sich auf die Tischkante, kommt ein Stück hoch. Arme und Beine zittern. Ehe sie stürzt, lässt sie sich zurückfallen. Schweiß steht im geröteten Gesicht. "Es klappt nicht", schnauft sie. Es klappt immer seltener mit dem Aufstehen. "Dabei ist das noch leicht", sagt sie. "Schlimmer ist das Gehen. Ich kann bald nicht mehr."

VIDEO ⎮Der Kampf gegen die Keime wirkt sich auf die Familie aus: Margot G. berichtet, wie ihr Ehemann wegen anhaltender Sorgen um ihre Gesundheit depressiv wurde.
Finden Sie sich damit ab, dass ihre Frau nicht mehr zurückkommt.
Ein Klinikarzt

Ihre Hüfte ist verschlissen, seit Jahren schon. Dringend braucht Margot G. eine neue. Denn sie wird noch gebraucht. Ihr Mann leidet unter schweren Depressionen. Er ist zum Pflegefall geworden, damals, als sie unter Schläuchen und Atemmaske begraben im Intensivbett lag und die Ärzte ihm sagten: "Finden Sie sich damit ab, dass ihre Frau nicht mehr zurückkommt." Am Krankenbett ist Helmut G. damals zusammengebrochen. Anderthalb Jahre verbrachte er danach in der Psychiatrie. Immer noch tut er keinen Schritt ohne seine Frau. Ihr aber tut jeder Schritt weh.

Ihre Krankenkasse, die IKK classic, packt das jahrelange Leiden in drei Sätze: "Frau G. wurde 2010 am Unterleib operiert. Seitdem leidet sie an einer chronischen Wunde der Bauchdecke sowie einer MRSA-Infektion. Die Versorgung der Wunde erfolgt bis heute durch ein Krankenhaus, ihren behandelnden Hausarzt sowie einen Pflegedienst." So bestätigt die Kasse, was Margot G. dreieinhalb Jahre lang verschwiegen wurde: Dass sie mit dem gefährlichen MRSA-Bakterium infiziert ist, gegen das nur wenige Antibiotika wirken. Jedes Jahr sterben Tausende Menschen an diesem Keim.

Wie ist der Erreger in den Körper von Margot G. gekommen? Das lässt sich heute nicht mehr genau nachweisen. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass sie sich in einer Klinik angesteckt hat.

VIDEO ⎮Ärzte ohne Taktgefühl: Margot G. schildert, wie abweisend sie als MRSA-Patientin in einem Krankenhaus empfangen wurde

Die Leidensgeschichte von Margot G. beginnt 2010. Da wird sie im Allgemeinen Krankenhaus Hagen am Unterleib operiert. Drei Eingriffe binnen drei Wochen sind im Arztbericht dokumentiert, dazu viele Komplikationen. Die Chirurgen schneiden die Bauchdecke auf, entfernen einen bösartigen Tumor, die Gebärmutter und Teile des Dickdarms, Lymphknoten, Fett- und Bindegewebe. Doch dann gelingt es ihnen nicht, die Darmnaht dicht zu schließen. Flüssigkeit ergießt sich in die Bauchhöhle. Das Bauchfell entzündet sich, es kommt zur Blutvergiftung, ein künstlicher Darmausgang muss gelegt werden. Die Entzündungswerte schießen in die Höhe. Schließlich reißt die Bauchdecke auf.

Von MRSA steht nichts im Arztbericht. Aus der Krankenakte von Margot G. geht hervor: Ihr Bettnachbar hatte den Keim. Ein MRSA-Test bei ihr verläuft negativ. Allerdings werden nur Hautoberflächen untersucht, nicht die Bauchwunde. 

Als Margot G. zwei Jahre später wieder in die Klinik kommt, um sich an der Schilddrüse operieren zu lassen, wird sie sofort isoliert. Allein liegt sie in einem Drei-Bett-Zimmer, ohne nähere Begründung. "Eine leise Ahnung hatte ich da schon", sagt sie heute. Die Ärzte finden in der offenen Bauchwunde den Krankenhauskeim Pseudomonas aeruginosa, der ebenso wie MRSA gegen viele Antibiotika unempfindlich ist. Weiter behandelt wird die Wunde jedoch nicht. Von MRSA ist immer noch nicht die Rede.

Ein Jahr später, 2013, soll Margot G. eine neue Hüfte eingesetzt werden. Als der Oberarzt im Evangelischen Krankenhaus Elsey in Hagen das 20 mal 20 Zentimeter große Loch im Bauch sieht, nimmt er einen Wundabstrich. Ergebnis: MRSA positiv. Damit ist die Hüft-OP passé. Zu gefährlich, sagen die Ärzte. Sie schneiden Haut aus dem Oberschenkel, versuchen damit die Wunde zu schließen. Es gelingt zum Teil. Das Loch wird kleiner, heilt aber nicht zu.

Sie haben MRSA. Kommen sie wieder, wenn der Keim weg ist.
Klinikarzt

Und die Hüftschmerzen bleiben. In Hagen und Umgebung finden Margot G. und ihr Hausarzt Michael Topp kein Krankenhaus, das hilft. "Weil sie infiziert ist, wagt sich keiner an die Hüfte heran", sagt Topp. Der Chefarzt einer Spezialklinik vor der Stadt winkt ab, als Topp ihn anspricht: "Wenn der Keim das neue Gelenk kontaminiert, ist ihre Patientin entweder tot oder sie sitzt fortan im Rollstuhl." Ein anderer Klinikarzt sagt Margot G.: "Sie haben MRSA. Kommen sie wieder, wenn der Keim weg ist." 

Wie wird sie den Keim los? Ihr Hausarzt empfiehlt ihr, nach Holland zu reisen. Auch in ihrer Zeitung liest Margot G. etwas über MRSA und die Niederlande. Sie ruft in der Redaktion der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung an. Es folgen grenzübergreifende Telefonketten und ein Angebot: Margot G. kann in eine Klinik nach Nijmegen kommen. Dort wollen die Ärzte den Bakterienstamm ihrer MRSA-Infektion feststellen und eine Behandlung einleiten, die sie zu Hause fortsetzen kann.

VIDEO ⎮Nicht endender Ärger mit der Krankenversicherung: Margot G. fühlt sich in ihrem Kampf gegen die Krankenhauskeime alleingelassen.

Nein, so einfach gehe das nicht, bremst die IKK classic. Obwohl die Krankenkasse seit 2010 weiß, dass ihre Versicherte mit MRSA infiziert ist und obwohl seither nie über eine Entseuchung gesprochen wurde, fordert die Kasse plötzlich "weitere Unterlagen" und "ärztliche Begründungen". Sonst will sie die Behandlung in den Niederlanden nicht bezahlen.

Der Prüfprozess zieht sich hin. Dann meint man bei der IKK classic, eine bessere Lösung als die Reise nach Nijmegen gefunden zu haben. Ganz in der Nähe von Frau G. gebe es ein Krankenhaus für die Rundumversorgung: Sanierung der Bauchwunde, Entseuchung und Hüftoperation. Margot G. wird ins Katholische Krankenhaus Hagen eingewiesen. Doch sie verlässt die Klinik so krank wie zuvor. Am 25. August 2014 meldet sich die Kasse telefonisch. Eine Sprecherin sagt kleinlaut: "Es ist nicht so gekommen, wie wir uns das vorgestellt haben."

Jetzt hat Margot G. genug. Sie will nach Holland, und zwar schnell. Der Termin steht bald. Die Kasse ist immer noch nicht sicher, ob sie das Unterfangen bezahlen will. Sie tut es am Ende nicht, aber das ist Margot G. nicht mehr wichtig. Es geht um ihr Leben.

Am 4. September 2014 setzt sich die Frau, die Ärzte vier Jahre zuvor totgesagt hatten, in ein Taxi. Im Canisius-Wilhelmina Ziekenhuis in Nijmegen trifft sie die MRSA-Spezialisten Tom Sprong und Andreas Voss. Sie untersuchen die Patientin eingehend und nehmen Abstriche von diversen Körperstellen. Noch am gleichen Abend ist Margot G. wieder zu Hause. Wenig später bekommt ihr Hausarzt eine Mail aus Nijmegen. Darin findet sich ein Plan zur "MRSA-Dekolonisierung für komplizierte Träger", genau abgestimmt auf die Patientin: Antibiotika, Salben, Hygienevorschriften, mögliche Nebenwirkungen.

Margot G. schöpft Hoffnung, da trifft sie ein weiterer Tiefschlag. Ihr Hausarzt entdeckt Flecken auf einem Röntgenbild. Metastasen? Ist der Krebs zurück? Das hieße Chemotherapie. Doch die greift das Immunsystem an. Dann aber könnten sich die MRSA-Bakterien wieder ausbreiten. Die Ärzte in Holland beruhigen Margot G.: Auch dafür gebe es Medikamente, die ein Zeitfenster für eine Chemotherapie öffnen. Das Allgemeine Krankenhaus Hagen arbeitet nun einen Behandlungsplan aus Nijmegen ab.

Margot G. vertraut den Holländern. Von der Krankenkasse und von den Klinikärzten hier jedoch fühlt sie sich im Stich gelassen. "Vier Jahre meines Lebens haben sie mir genommen. Aber immerhin: Ich lebe noch."

2 — Ein Astronaut im Krankenhaus

Von Karsten Polke-Majewski

Alexander Friedrich hebt die Stimme: "Ich bin wie ein Astronaut." Seine Augen blitzen. Das hier ist nicht nur ein Traumjob, nicht nur eine Mission. Es ist eine Herzensangelegenheit. Und das klingt recht merkwürdig, wenn man bedenkt, worum es eigentlich geht: um bösartige Bakterien.

Wer aus Deutschland anreist, um Friedrich zu besuchen, betritt zwar kein Raumschiff. Aber eine ungekannte Krankenhauswelt. Nirgends im Universitair Medisch Centrum Groningen pantoffelt ein Bademantel durch die Flure. Die Wartezonen der Fachkliniken des Uni-Krankenhauses glänzen wie die Gates moderner Flughäfen. Golfwagen fahren die Kunden durch weite Gänge. Nur Schwestern und Ärzte erkennt man am Weißzeug. Irgendjemand hat ihnen die Ärmel abgeschnitten.

Friedrich hat auch so einen Kittel, und noch einen zweiten mit langen Armen. Kurz für den Patientenkontakt, weil sich Haut leichter desinfizieren lässt als Stoff. Den zweiten fürs Labor. Friedrich arbeitet genau am Schnittpunkt zwischen diesen Leuten, die er Astronauten und Astronomen nennt, Pragmatiker und Theoretiker, Behandler und Laborärzte. Er ist der Missionschef, sein Büro mit dem riesigen Bildschirm darin der Kontrollraum.

Alexander Friedrich im Universitair Medisch Centrum Groningen © Henk Veenstra

Alexander Friedrich ist 43 Jahre alt. Seine Mutter ist Griechin, sein Vater Bayer, seine Frau Italienerin. Er spricht sieben Sprachen. Er hat Medizin studiert, in drei Ländern. Er ist Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie. Er hat fünf Jahre lang die Krankenhaushygiene am Uniklinikum in Münster geleitet. Seit 2011 führt er das Institut für medizinische Mikrobiologie und Krankenhaushygiene in Groningen.

Friedrich ist wohl der Mann, der am besten versteht, warum der Kampf gegen multiresistente Erreger in Deutschland so mühsam ist. Und weshalb in den Niederlanden fast alles so viel besser funktioniert.

Wenn Friedrich etwas nicht akzeptiert, dann sind es Grenzen. Immer wollte er über sie hinweg. "Die Sprache der anderen zu sprechen war der erste Weg dazu." Im Kampf gegen die Keime reißt er jetzt täglich Grenzanlagen ein. "Denn die Keime kennen keine Grenzen."

Überall waren Infektionen ein großes Problem.
Alexander Friedrich

Das war wohl seine entscheidende Erfahrung: Ganz gleich, wo er studierte, in Würzburg, im portugiesischen Coimbra oder in Rom, die Erreger waren schon da. "Überall waren Infektionen ein großes Problem. Und es nimmt zu." Weil immer mehr Keime Resistenzen gegen Antibiotika entwickeln. Weil die Europäer immer älter werden, die Zahl komplexer Operationen deshalb wächst. Daraus leitet Friedrich seinen Auftrag ab: "Die Gesellschaft soll gesund altern können. Das heißt für mich: Sorge dafür, dass Infektionen nicht auftreten. Und wenn doch, dass sie behandelbar bleiben."

Deshalb baut er in der grenzüberschreitenden Euregio zwischen Twente und Münsterland Netzwerke aller Einrichtungen des Gesundheitswesens auf. Denn die Keime folgen den Patienten. Bekommt einer im ersten Krankenhaus ein Antibiotikum, das ihn heilt, aber gleichzeitig resistente Erreger in seinem Körper züchtet, weiß die nächste Klinik nichts davon und gibt leicht das falsche Medikament. "Infektionskrankheiten kann man nur im Zaum halten, wenn man sie präventiv und über mehrere Kliniken hinweg bekämpft."

© Henk Veenstra

Klingt sinnvoll. Doch die Grenze zwischen Deutschland und Holland ist schärfer gezogen, als es die abgebauten Kontrollanlagen an den Autobahnen vermuten lassen. Schlafwandlerisch betet Friedrich die Zahlen her: 21 Prozent der deutschen Bevölkerung gehen einmal im Jahr ins Krankenhaus, aber nur neun Prozent der Niederländer. 430 Akutkrankenhäuser mit Intensivstationen, wo besonders viele multiresistente Keime auftreten, gibt es in Nordrhein-Westfalen, das etwa gleichgroße Holland hat nur 99 solcher Kliniken. NRW hat dreimal mehr Krankenhausbetten pro tausend Einwohner, aber nur ein Drittel so viele Krankenhaushygieniker wie niederländische Häuser. Nur zehn Prozent der deutschen Kliniken haben überhaupt einen hauptamtlichen Hygieniker. Friedrich beschäftigt in seiner Abteilung 24.

Robert Koch. Der wusste noch, wie man den Keimen beikommt. "Leider hat Deutschland vergessen, was sein Nobelpreisträger vorlebte", sagt Friedrich. Dass man Augen für das Unsichtbare braucht. Also Leute, die schnell herausfinden, welches Bakterium genau den Patienten quält.

"Wir müssen täglich drei Patientenfragen beantworten: Wie schützt du mich davor, dass ich mich infiziere? Wenn ich doch krank werde: Welcher Erreger genau ist die Ursache dafür? Und schließlich: Wie behandelst du mich?" In diesem Dreisatz kommen zwei Denkmuster zusammen, die deutsche Ärzte selten zusammen denken: die Sorge um den einzelnen Patienten und die Sorge um die Gesundheit der umgebenden Gesellschaft.

"Wir wussten in Deutschland mal ganz gut, wie man das macht. Nicht umsonst gibt es in jedem Kreis ein Gesundheitsamt", sagt Friedrich. Die entstanden, um die Pocken zu bekämpfen oder die Cholera. "Solche Ausbrüche besiegt man nicht, indem man einzelne Kranke therapiert, sondern nur durch umfassende Hygiene."

Je später das richtige Antibiotikum gegeben wird, umso größer ist die Gefahr, dass der Patient stirbt.
Alexander Friedrich

Für die modernen Keime gilt das noch viel mehr. Im Gegensatz zu den Pocken machen sie nicht unmittelbar krank. Ein gesunder Mensch kann den Erreger jahrelang mit sich herumtragen, ohne dass etwas passiert. Bis er dann operiert werden muss. Oder das Immunsystem im Alter nachlässt.

Für seine Jagd braucht Friedrich Astronauten und Astronomen. Die Theoretiker im Labor müssen die Erreger erkennen, müssen wissen, mit welchen Mitteln sie zu bekämpfen sind. Sie ahnen voraus, dass ein neuer Direktflug von Groningen nach Kreta bösartige Keime in die Stadt bringen kann und sorgen dafür, dass sie schon vor deren Eintreffen wissen, wie man sie überwindet.

Die Pragmatiker kommen jeden Tag auf die Station und beraten die Fachärzte, was gegen welche Infektion zu tun ist. Manchmal fischen sie aus der Masse der Patienten auch solche heraus, von denen niemand gemerkt hatte, dass sie infiziert sind. "Wenn Astronauten und Astronomen perfekt zusammenarbeiten, ist der Patient gut versorgt", sagt Friedrich. "Denn je später das richtige Antibiotikum gegeben wird, umso größer ist die Gefahr, dass der Patient stirbt."  

So ist es in Groningen. In Deutschland sind die Labore outgesourced, die Astronomen weit weg. Astronauten gibt es ohnehin kaum. Wenn doch einer eingestellt werden soll, findet sich niemand. Denn ausgebildet werden sie kaum. Aber Friedrich hat Hoffnung: "In den Niederlanden hat es auch 20 Jahre gedauert, bis sich diese Kultur entwickelt hat." Bakterien brauchen 20 Minuten, um sich zu replizieren.


3 — Landarzt und hilflos

Von Stephan Lebert

Die Wut? Woher die Wut kommt? Gerd-Ludwig Meyer schnauft laut. Dann erzählt er von der alten Dame, die als Patientin in seine Praxis kam. Sie war nierenkrank, dazu hatte sie eine Harnwegentzündung. Also verschrieb Meyer ihr das erste Antibiotikum. Es nützte nichts. Er verordnete das zweite Antibiotikum, das dritte, das vierte, das fünfte. Keines half. Die Entzündung wurde immer schlimmer. "Sie sehen zu, wie ein Mensch elendig leidet. Und Sie können nichts tun, gar nichts." Nach einigen Tagen der Qual war die alte Dame tot. 

© Thomas Rabsch

Meyer betreibt zusammen mit Ärztekollegen eine Dialysepraxis im niedersächsischen Städtchen Nienburg, nicht weit von Hannover. 30.000 Menschen leben dort. Der Tod der alten Dame war kein Einzelfall. Vier weitere Patienten von Meyer starben in den vergangenen Monaten. Jedes Mal hatten Antibiotika nichts ausrichten können. Die Todesursache: multiresistente Keime

Es ist ein so beschissenes Gefühl, wenn du als Arzt völlig hilflos bist.
Gerd-Ludwig Meyer

"Es ist ein so beschissenes Gefühl, wenn du als Arzt völlig hilflos bist", sagt Meyer. Er drückt sich gerne deutlich aus, er ist überhaupt ein Mann, der schnell Klarheit schaffen will. Er braucht auch nur einige Sätze, um sein Leben zu beschreiben. Landwirt und Arzt, das ist Meyer. Zuerst war der Landwirt. Als ältester Sohn hatte er den Hof übernommen. Enge Welt, engste Welt. Dann der Ausbruch, die 68er Zeiten, Randale in kommunistischen Kaderorganisationen. Auf dem zweiten Bildungsweg macht er Abitur und studiert anschließend Medizin. Er wird Medizinunternehmer, private Dialysestationen sind sein Ding. Zwanzig Millionen Euro Jahresumsatz macht er damit. Dann kommt der finanzielle Absturz. Lebenskrise. Am Ende hat er sie mit der Gewissheit überstanden, sich jetzt nur noch "auf das wirklich Wichtige im Leben zu konzentrieren". Dazu gehört auch die kleine Dialysestation in Nienburg

Gerd-Ludwig Meyer in seiner Praxis in Nienburg © Thomas Rabsch

Meyer hat strubbelige Haare und ein Gesicht, dem man das Leben ansieht. Vor vier, fünf Jahren ging das so richtig los, sagt er. Plötzlich mussten immer mehr Patienten isoliert werden, weil sie von multiresistenten Keimen befallen waren. Dann lernte er, dass Landwirte nicht mehr einfach nur Ferkelzüchter und Putenmäster waren, sondern Risikopatienten. "Wenn ein Landwirt in eine Klinik kommt, muss er im Prinzip sofort isoliert werden, die haben alle diese Keime." Alle sind es noch nicht, aber bis zu 80 Prozent der Landwirte in viehreichen Regionen sind mit gefährlichen Keimen befallen. Denn in den Ställen hat sich aus dem menschlichen MRSA ein Keim entwickelt, der Schweine und Hühner als Wirt nutzt – und wieder auf den Menschen überspringen kann. 

Irgendwann begriff Meyer, dass es eine unsichtbare Verbindung gibt zwischen den beiden Berufen seines Lebens: dem Landwirt und dem Arzt. 

Diese Verbindung hat viele, schwer auszusprechende Namen: Cephalosporine, Fluorchinolone, Carbapeneme. Das alles sind Bezeichnungen für Wirkstoffgruppen von Reserveantibiotika, sozusagen die allerletzten Medikamente, mit denen Ärzte gegen multiresistente Bakterien vorgehen. Die letzten Medikamente, die diese Erreger töten können. Doch nicht nur Humanmediziner benutzen sie, sondern auch Landwirte: die einen beim Kranken, die anderen beim Schlachtvieh.

Wenn du diese Verbindung kapierst, dann wirst du wahnsinnig.
Gerd-Ludwig Meyer

Die Landwirte kippen die Antibiotika in ihren fast hermetisch abgeriegelten Ställen zu den Schweinen und Hühnern – früher als Wachstumsbeschleuniger, heute um vorsorglich die Ausbreitung von Infektionen zu verhindern. So schaffen sie eine perfekte Brutstätte für gegen Antibiotika resistente Keime, die dann die Ärzte in den Praxen und Kliniken zur Hilflosigkeit verdammen. "Wenn du diese Verbindung kapierst", sagt Meyer, nein, er schreit es fast, "und auch kapierst, dass nichts dagegen geschieht, dann wirst du wahnsinnig".

Die Spur der Keime: Fälle mit multiresistenten Erregern je 1.000 Krankenhauspatienten, 2013 © Zeit Online

Jetzt, Ende Oktober, reist der wütende Arzt nach London. Er ist zu einer wissenschaftlichen Konferenz der Royal Society of Medicine eingeladen. In deren neobarockem Prachtbau soll über die Gefahr des übermäßigen Antibiotika-Einsatzes in der Landwirtschaft diskutiert werden. Die Besetzung kann hochkarätiger nicht sein – und die Warnungen nicht dringlicher. Der zuständige schwedische Minister wird per Video zugeschaltet. Der Kampf gegen die Antibiotika-Resistenzen "hat oberste Priorität für die schwedische Regierung, er ist die größte Herausforderung unserer Zeit", ruft er aus Stockholm den versammelten Fachleuten zu.  

Aus Deutschland ist kein politisch Verantwortlicher gekommen. Aber Meyer ist da, weil er vor einigen Monaten eine Ärzteinitiative gegen "Monsterschlachthöfe und MRSA" gegründet hat, der sich inzwischen mehr als 600 Ärzte und Tierärzte angeschlossen haben. In London gefällt es Meyer, endlich hat er das Gefühl, dass es Verantwortliche gibt, die die Dramatik der Situation erfasst haben. Zum Beispiel als ein Wissenschaftler ein Szenario für Großbritannien vorstellt, wonach die Zahl der Toten durch Bakterieninfektionen um das Zehnfache auf eine Million Menschen in drei Jahren ansteigen könnte. Es wäre ein nationaler Notfall. 

Doch Meyers Zuversicht währt nur kurz, ihn erreicht eine Nachricht aus Niedersachsen. In Großenkneten, knapp hundert Kilometer von seiner Heimat Nienburg entfernt, hat der Gemeinderat mit einem Grundsatzbeschluss den Weg für den Bau vieler neuer Stallanlagen für die Massentierhaltung geebnet. Es gab vier Gegenstimmen, doch die Kritiker hatten keine Chance gegen 28 Stimmen von CDU, SPD und FDP. Meyer ist fassungslos. "Entweder ich erstatte beim Staatsanwalt Anzeige wegen Körperverletzung...", er überlegt, ob er es aussprechen soll, aber dann sagt er es doch: "...oder ich werde Terrorist".

4 — Lobbyist der Schweine


Von Philip Faigle

Schubladendenken. Das ist das Wort, das Franz-Josef Holzenkamp seinen Kritikern am liebsten entgegenhält. Den Umweltschützern, den Medien, überhaupt den "vereinigten Linken" aus Grünen und SPD, die ihn für den größten Verfechter der Massentierhaltung halten. Für einen Ewiggestrigen, der wirtschaftliche Interessen über alles stellt, vor allem über das Wohl von Tieren und Menschen. Einer, der jetzt eingeholt wird von seinen Verfehlungen, durch einen Keim namens MRSA. "Alles wird über einen Kamm geschoren", sagt Holzenkamp. "Ich bin damit nicht einverstanden." 

VIDEO ⎮Die anderen verbrauchen noch mehr Antibiotika – und die Deutschen sind mit ihren Lebensmitteln doch zufrieden: Wie Franz-Josef Holzenkamp (CDU) im Bundestag die deutsche Massentierhaltung verteidigt

Ein Donnerstagabend in Holzenkamps Berliner Bundestagsbüro. Neben seinem Schreibtisch steht die Biographie von Helmut Kohl, auf dem Tisch weht die Fahne seiner Heimat: Südoldenburg in Niedersachsen, einem der Epizentren der deutschen Landwirtschaft. Nirgendwo in Deutschland sind die Auswüchse der industriellen Tierhaltung besser zu beobachten als in Holzenkamps Wahlkreis, wo über jeder Tür ein Kruzifix hängt und die Luft nach Schweinen und Gülle riecht. Fast nirgendwo sonst förderte die Politik so konsequent über Jahre hinweg mit Millionen Euro neue Ställe und Schlachtanlagen – unter Protest von Umweltschützern. Holzenkamp stand in diesem Streit stets auf der Seite der Verteidiger des heutigen Systems, ein Befürworter von "Wirtschaftlichkeit" und stetigem Wachstum in der Landwirtschaft. Und heute? 

Holzenkamp muss wissen, dass der Keim MRSA längst nicht nur das Leben von Tausenden Patienten bedroht. Es geht auch um die Frage, wie gefährlich die Massentierhaltung für den Menschen geworden ist. "Masse", sagt Holzenkamp, "damit fängt es doch schon an". Für Holzenkamp ist schon das Wort "Massentierhaltung" ein Kampfbegriff, weil niemand sagen könne, was Masse eigentlich sei: 10.000 Tiere, 20.000 oder 40.000? Es sei außerdem falsch, zu behaupten, dass es bei der Verbreitung von MRSA auf die Größe der Betriebe ankomme. "Dafür gibt es bis heute keine belastbaren Studien." 

Da müssen wir runter auf das notwendige Maß.
Franz-Josef Holzenkamp über den Einsatz von Antibiotika

Richtig sei hingegen, dass der zu häufige Einsatz von Antibiotika in den Tierställen die Lage verschlimmerte. "Da müssen wir runter auf das notwendige Maß." Die schwarz-gelbe Regierung hat hierzu vor Kurzem ein Gesetz überarbeitet: das Arzneimittelgesetz. Seither müssen die Bauern Antibiotika, die sie verwenden, in einer zentralen Datenbank eintragen. Die Regierung hofft, dass die Menge der Medikamente dadurch sinkt. Einen "soliden Kompromiss", nennt Holzenkamp das Gesetz. Einen "zahnlosen Tiger" nennen Umweltschützer die Regelung. Es sei nämlich nicht festgelegt, auf welche Mindestmengen der Einsatz der Antibiotika am Ende sinken soll. Damit sich wirklich etwas ändert, müsste sich der Einsatz in den nächsten Jahren halbieren. 

Für Holzenkamp zeigen solche Forderungen vor allem eines: dass die Gesellschaft die Bauern nicht mehr versteht. "Natürlich müssen wir die Probleme in der Landwirtschaft angehen", sagt Holzenkamp. "Aber wir müssen die Bauern auch mitnehmen." In Holzenkamps Weltsicht sind die Bauern in den letzten Jahren in eine Krise geraten, nicht nur finanziell, sondern auch moralisch. "Die Stimmung ist so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht." Die Verbraucher, sagt Holzenkamp, hätten ihre Einstellung zu Tierhaltung in den vergangenen Jahren schneller überdacht als ihr Konsumverhalten. Sie forderten billiges Fleisch und exzellente Haltungsbedingungen – beides sei gleichzeitig eben nicht zu haben. Viele Bauern könnten ihre Betriebe deshalb kaum noch halten.

Holzenkamp kennt die Landwirtschaft seit er Kind war. Schon seine Eltern waren Bauern. Mitte der Achtziger heiratete er seine Frau Wiltrud – ebenfalls eine Landwirtin – und übernahm den Betrieb ihrer Familie im niedersächsischen Garthe: 90 Hektar, 3.000 Schweine. Er weiß aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, ein Schwein ohne Betäubung zu kastrieren: "Ich kann Ihnen versichern, das macht kein Bauer gern." Und er kennt die Region noch aus einer Zeit, als in manchen Kommunen bis zu 40 Prozent Arbeitslosigkeit herrschte. In den sechziger Jahren war das, Holzenkamp war da noch ein kleiner Junge. "Damals gab es gar nichts: karge Böden, keine Industrie, keine Perspektive." 

Ich muss mich darum kümmern, dass Arbeitsplätze erhalten bleiben.
Franz-Josef Holzenkamp

Für Tierschützer mögen die Riesenställe, die vielen Futtermittelhersteller, die wachsende Agrarindustrie ein Graus sein. Für Holzenkamp haben diese Unternehmen seine Heimat aus der Armut geführt. Viele dieser Firmen sind Weltmarktführer, in manchen Orten herrscht Vollbeschäftigung, selbst in Vechta liegt die Arbeitslosenquote bei unter fünf Prozent. Es gibt deshalb keine Rede, in der Holzenkamp nicht vor zu strengen Gesetzen für die Landwirte warnt, vor einer "Bevormundungspolitik", die die "Wettbewerbsfähigkeit" der "Bauernfamilien" gefährden könnte. Die CDU bekam in seinem Wahlkreis nie weniger als 60 Prozent der Stimmen. Bei der jüngsten Bundestagswahl errang Holzenkamp 63,9 Prozent der Erststimmen – mehr als jeder andere Abgeordnete im Bundestag. Für Holzenkamp bedeutet das auch: "Ich muss mich darum kümmern, dass Arbeitsplätze erhalten bleiben." 

Holzenkamps Gegner halten das für Heuchelei. Denn der CDU-Mann ist nicht nur Abgeordneter, sondern auch Unternehmer. Kritiker werfen ihm vor, dass er sich gegen strengere Gesetze in der Tierhaltung sträubt, weil es seine eigenen Gewinne schmälern würde. Immerhin leitet Holzenkamp die CDU-Arbeitsgruppe Ernährung und Landwirtschaft und nimmt auch sonst erheblichen Einfluss in seiner Partei. "Wir fragen uns oft: Handelt dieser Mann aus Überzeugung oder eher nach seinem Portemonnaie?", sagt ein Oppositionsmann. Vermutlich beides.


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Einige Bakterien sind gefährliche Feinde. Besonders für geschwächte Menschen, für Kinder und Alte können Infektionen durch solche Keime schnell lebensbedrohlich werden. Sie kommen in Krankenhäusern vor und in Mastanlagen für Schweine und Hühner. Lange Zeit schien es, als habe die Menschheit ein Wundermittel dagegen gefunden: Antibiotika. Doch die Mittel verlieren an Kraft. Was ist da los? ZEIT ONLINE, DIE ZEIT, das Recherchebüro CORRECT!V und die Funke-Mediengruppe beleuchten in einer vierwöchigen Serie Tödliche Keime den Kampf gegen die multiresistenten Erreger. Die wichtigsten Fragen beantwortet die Infografik "Woher die resistenten Krankenhauskeime kommen".

Mitwirkende

Autoren: Klaus Brandt (WAZ), Karsten Polke-Majewski, Stephan Lebert, Philip Faigle

Redaktionelle Koordination: Fabian Mohr, Karsten Polke-Majewski

Redigatur: Meike Dülffer

Fotografien: Stefan Sobotta (360-Grad-Bilder), Thomas Rabsch, Henk Veenstra

Videomaterial: Michael Kleinrensing (WAZ), Deutscher Bundestag, Dr. Jan Liese (Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene, Universitätsklinikum Tübingen / DZIF Tübingen)

Videoschnitt: Fabian Mohr 

Entwicklungsredaktion: Johannes Neukamm

Infografik: Paul Blickle, Sascha Venohr