"Ach, Europa", seufzte Hans-Magnus Enzensberger in seinem Buch von 1987. Damals hatte die EU 12 Mitglieder, heute sind es 27. Die Fragen haben sich seitdem verschärft – siehe Finanzkrise und Schuldenberg, Covid-19 und Wirtschaftskatastrophe. Wer sind wir? Hat die EU eine staatenübergreifende Identität? Was ist Solidarität? Ist das nationale Hemd näher als der europäische Rock?

Wer Zahlen liebt, findet die Antworten in einer brandneuen Studie des European University Institute in Florenz, die auf unzähligen Daten von YouGov basiert. Sie bestätigen Vertrautes. Die Bluse ist tatsächlich näher als das Wams. Wie im normalen Leben, wo der Bruder uns nähersteht als der Vetter und dieser mehr erwarten darf als ein Bekannter.

Das Fazit: "Solidarität ist vorweg national." Es folgen die Länder in der direkten Nachbarschaft. Je dichter dran, desto mehr Hilfsbereitschaft. Schweden und Dänemark kriegen voneinander mehr als Portugal und Polen. Wie im "wirklichen Leben", wo Abstand die Treue senkt.

Der europäische Geist steht gegen Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches. Die allerjüngste Erfahrung – der nächtelange EU-Streit um das 1,8-Billionen-Rettungspaket – bestätigt die YouGov-Umfragen.

Die Studie hält fest: Von der Schulden- bis zur Flüchtlingskrise 2010-2016 wuchs die Nachfrage nach Zusammenhalt, während das "Angebot an Solidarität ziemlich gering" war. Die Gründe liegen auf der Hand.

1. Solidarität fordert finanzielle Opfer.

2. Sie ist ungleich verteilt, weil die einen geben und die anderen nehmen. Geld fließt von Niedrig- in Hochrisiko-Länder – ohne Rückzahlungsgewähr.

3. Solidarität erzeugt zwar Gutes, aber auch, was die Ökonomie moral hazard nennt, moralisches Fehlverhalten. Warum sollte sich ein Empfänger zu schmerzhaften Reformen aufraffen, wenn er immer wieder gerettet wird?

Kein Wunder, dass Mehrheiten (bis zu 70 Prozent) in den befragten 13 EU-Ländern Steuergelder lieber daheim einsetzen wollen. Es entsteht aber nicht nur eine Nord-Süd-Kluft, wie gemeinhin geglaubt: hier Club Med, dort die Sparsamen Vier. Unter den Top-Zahlungsunwilligen befinden sich einerseits Frankreich und Italien, anderseits Ungarn und Rumänien, die nicht in das Nord-Süd-Schema passen. Das Eigeninteresse zeugt merkwürdige Allianzen, die neue Risse schlagen.