Corona hat ihn weltberühmt gemacht. Spätestens seit Tedros Ghebreyesus, Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), am 11. März 2020 die Seuche zur Pandemie erklärte, kennt fast jeder den Mann mit der eckigen Brille und dem Schnauzbart, dessen Augenringe in den folgenden Monaten immer dunkler und dessen Feinde immer zahlreicher wurden. Die chinesische KP nannte ihn "unverantwortlich", Donald Trump hielt ihn für zu chinafreundlich, Gesundheitsexpert:innen fanden ihn zu zaghaft, Querdenker:innen sehen ihn bis heute an der Spitze einer globalen Verschwörung und schicken ihm Morddrohungen. 

Vor einigen Wochen sprach Dr. T, wie er in der WHO genannt wird, vor der Presse von seiner ganz eigenen Krise: In seiner Heimat hungern Familienangehörige und er kann ihnen nicht helfen. "Ich weiß nicht einmal, wer tot ist oder noch lebt."

Tedros Ghebreyesus stammt aus Äthiopien, genauer gesagt aus Tigray. Die nördlichste Region des Landes ist Schauplatz des Krieges zwischen Truppen des Premierministers Abiy Ahmed und seinen Verbündeten auf der einen und Kämpfer:innen der Volksbefreiungsfront Tigray (TPLF) auf der anderen Seite. Auf bis zu 500.000 wird die Zahl der Todesopfer vom Beginn der Gewalt im November 2020 an inzwischen geschätzt. Menschen, die durch Kugeln, Bomben, Hunger oder Krankheiten starben, die aufgrund des zerstörten Gesundheitswesens nicht behandelt werden konnten. Es ist derzeit der mit Abstand schlimmste Krieg der Welt. 

Jetzt, Stand Anfang Oktober, wird er nach einigen Monaten Feuerpause wieder mit voller Wucht geführt. Die schlimmste Waffe, die zum Einsatz kommt, ist der Hunger.

Liebe Lesenden, wenn Ihr Kopf keinen Platz mehr für ein weiteres Elendsgebiet hat, klicken oder scrollen Sie weiter. Ich kann Sie verstehen. News fatigue, also die mentale Erschöpfung im Angesicht ständiger Katastrophenmeldungen, verspüren nicht nur Sie, sondern auch wir Journalist:innen. 

Warum trotzdem (wieder) über einen Krieg schreiben?

Weil es – eigentlich – nicht sein darf, dass eine Region mit rund 5,5 Millionen Menschen seit bald zwei Jahren von jeder Versorgung weitgehend abgeschnitten ist, dass vermutlich mehrere Tausend Menschen bereits an Hunger und Krankheiten gestorben sind, dass fast jedes dritte Kind und über die Hälfte der stillenden Mütter in Tigray akut unterernährt ist

Liegt die dünne Berichterstattung an der Hautfarbe der Opfer?

Dass die Weltöffentlichkeit davon kaum Notiz nimmt, liege "vielleicht an der Hautfarbe der Opfer", sagte Tedros bei seiner Pressekonferenz. Ein Krieg in Afrika berühre internationale Medien eben weniger als der Krieg in der Ukraine. Was stimmt, aber auch zu einfach ist. 

Wer die Vorgeschichte dieses äthiopischen Albtraums ausführlich nachlesen will, kann das in einer früheren Kolumne von mir hier tun – oder in einer ausführlichen Reportage in der aktuellen Ausgabe des New Yorker (womit die These von der fehlenden Aufmerksamkeit westlicher Medien zumindest ein bisschen widerlegt wäre).

In aller Kürze: Nach Abiys fulminantem Amtsantritt als Reformer, inklusive Friedensnobelpreis 2019, eskalierte 2020 ein innenpolitischer Konflikt zwischen ihm und der einst dominierenden Kraft im Land, der TPLF. Es ging um die Verfassung, um Wahlen, um Föderalismus versus Zentralismus, es ging um historische Traumata. Ab November 2020 wurde dann geschossen. Was Abiy als kurze "Militäroperation zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung" in Tigray angekündigt hatte, weitete sich schnell zu einem Krieg aus unzähligen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung aus. Selbst hartgesottene UN-Ermittler:innen zeigten sich in einem Bericht, veröffentlicht in der vergangenen Woche, schockiert von der Anzahl der Massaker und Massenvergewaltigungen, vom Ausmaß der Plünderungen und der Zerstörung von Brunnen, Erntevorräten und Saatgut.