Milen Halefoms Ehemann, ein bekannter Geschäftsmann, wurde in Nairobi entführt. © Gioia Shah

Michael berichtet von einem Vorfall, von dem auch viele andere Tigray erzählen: Im November vergangenen Jahres wurde in Nairobi ein bekannter Geschäftsmann entführt, ein Tigray. Handyvideos zeigen, wie Männer Samson Teklemichael aus dessen dunkellilafarbigen Bentley zerren, in ein anderes Auto verfrachten und davon fahren.

"Wir wissen nicht, wo er ist, wir wissen nicht, ob er lebt, wir wissen gar nichts", sagt Milen Halefom, die Ehefrau des Entführten. Der Schlüssel des Bentley, aus dem ihr Mann gezerrt wurde, liegt vor ihr auf dem Tisch. Für die 40-Jährige und ihren Mann ist Kenia seit mehr als 15 Jahren Heimat, sie exportieren Kochgas nach Äthiopien. Mit dem Konflikt in Tigray hätten die beiden nichts zu tun, sagt sie. "Mein Mann ist kein Politiker, kein Krimineller." Ob die äthiopische Regierung hinter der Entführung stecken könnte? Dazu könne sie nichts sagen, sie habe keine Beweise. Aber sie sei überzeugt, dass die kenianische Polizei involviert ist. "Und die schulden uns Antworten. Seit einem Jahr." Die Polizei hat auf mehrere Anfragen von ZEIT ONLINE zu dem Fall nicht reagiert.

Stichhaltige Hinweise darauf, dass äthiopische Sicherheitskräfte in Nairobi agieren, sind schwer zu finden. Aber Bedenken um die Sicherheit von Tigray in Kenia bestehen, wie William Davison, ein Analyst beim Thinktank International Crisis Group, sagt. In der Vergangenheit gab es bereits besorgniserregende Vorfälle. Victor Nyamori von Amnesty International berichtet von zwei Äthiopiern, die 2014 von der kenianischen Polizei in Nairobi entführt und den äthiopischen Behörden übergeben wurden. Bei einer Beratungsstelle von Amnesty haben sich demnach viele Geflüchtete darunter Äthiopier, mit Sorgen um ihre Sicherheit gemeldet. Die Fälle werden Nyamori zufolge einzeln untersucht, doch Näheres kann er nicht sagen. Samson Teklemichael ist noch immer verschwunden, und die Ängste der Tigray in Kenia wachsen.

Milizen stehen an einem Kontrollpunkt am Eingang der Stadt Abala: Die Afar-Region bietet den einzigen Durchgang für humanitäre Konvois nach Tigray. © Eduardo Soteras/​AFP/​AFP/​Getty Images

Unweit der schicken Stadtvilla von Milen liegt an einer belebten Straßenecke die Äthiopisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche. Sonntagmorgens ertönen mehrere Stunden lang die Stimmen von Priestern, die rhythmische Gebete auf Altäthiopisch in ein Mikrofon sprechen. Hier trifft sich die äthiopische Gemeinde Nairobis zum Gottesdienst. Doch nicht allen Äthiopiern bietet dieses Gotteshaus einen friedlichen Rückzugsort. "Die Politik ist bereits in die Kirche eingedrungen", sagt ein hochrangiges Mitglied der Kirche, das seinen Namen nicht nennen möchte. Der Mann ist selbst Tigray. Zwar wird er nicht direkt angegriffen, wie er sagt, dagegen schütze ihn seine hohe Position. Die Priester würden der Gemeinde Inhalte predigen, die ihnen von der äthiopischen Botschaft vorgegeben würden. "Tigray kommen inzwischen gar nicht mehr".

An die Zukunft zu denken, ist ein Luxus

Tsegay und Tomas, zwei Freunde in ihren Dreißigern, beide Tigray, sind vor rund einem Jahr von Addis Abeba nach Nairobi geflohen. Auch sie möchten nicht, dass ihre richtigen Namen veröffentlicht werden. Tsegay gehe zwar in die Kirche zum Beten, aber nur nachts, "wenn dort kein Mensch ist". Tomas betet wenn überhaupt zu Hause. Die beiden leben mit einer weiteren Person in einer kleinen Wohnung: zwei Zimmer, jedes kaum größer als eine Abstellkammer. Küche und Bad sind außerhalb der Wohnung auf dem Gang. Die Matratze von Tsegay lehnt tagsüber an der Wand, um Platz zu schaffen, darüber hängt die Flagge von Tigray: rot mit gelbem Dreieck und Stern. Es brennt äthiopischer Weihrauch.

Die Wohnung ist Welten entfernt von der Mittelschicht-Idylle, die die beiden in Addis Abeba zurückgelassen haben – Job, Auto, Wohnung, Freunde, Spaß. Ihr Leben in Nairobi hat sich auf das Mindeste reduziert: in Sicherheit bleiben. Auch sie sind schockiert über die Entführung des Geschäftsmannes Samson Teklemichael. "Unsere Regierung versucht, uns zu eliminieren, auch hier", sagt Tomas. In ihrem neuen Leben ist der Fokus auf eins gerichtet: "Im Moment denke ich daran, wie ich überleben kann." Damit meint Tomas auch das finanzielle Überleben, denn Nairobi ist teuer und die beiden haben keine Arbeit.

Tsegay und Tomas sind vor rund einem Jahr von Addis Abeba nach Nairobi geflohen. Aus Angst möchten sie anonym bleiben. © Gioia Shah

An die Zukunft zu denken ist ein Luxus, den sie sich kaum leisten können. Der Krieg habe ihm vor allem eines gelehrt, sagt Tsegay: "Das Leben ist nicht, wie du es erwartet hast. Es kann sich innerhalb einer Sekunde ändern." Immer mal wieder kommen flüchtige Zukunftsgedanken auf, über ein Leben in Kenia, oder doch als Kämpfer im Krieg. Die Männer träumen von einem unabhängigen Tigray.

Im Hier und Jetzt gönnt sich Tsegay nur einen Luxus: "Ich liebe Injera. Ich kann mich davon nicht fernhalten", sagt er. Er kauft das äthiopische Fladenbrot in einem Restaurant. Es ist nicht nur der Geschmack, den Tsegay liebt. Das Brot erinnert ihn an Zuhause. "In unserer Kultur isst man Injera nicht allein." Man trifft sich um eine große runde Platte, isst gemeinsam, teilt, redet – Injera bringt Menschen zusammen. Wann Tsegay das nächste Mal mit seiner Familie in Addis Abeba oder Tigray Injera essen wird, weiß er nicht.