Schulfamilien : Wie Schulen und Schulaufsicht besser zusammenarbeiten können

In einigen Ländern Europas und der Welt arbeiten Schulen in sogenannten Schulfamilien zusammen. Schulleiterinnen und Schulleiter kooperieren in solchen Netzwerken mit der zuständigen Schulaufsicht, um Schulentwicklung voranzubringen und Antworten auf drängende Fragen zu finden. Nach diesem Konzept startet jetzt das Projekt „Wir.Lernen – Grundschulen in Baden-Württemberg sichern Basiskompetenzen“. Das Schulportal hat mit Anne Sliwka zu den Zielen und Herausforderungen gesprochen. Die Bildungsforscherin der Uni Heidelberg hat sich intensiv mit Schulfamilien im internationalen Kontext beschäftigt und begleitet dieses Kooperationsprojekt der Robert Bosch Stiftung mit dem Kultusministerium in Baden-Württemberg.

Würfel mit Figuren als Symbol für Schulfamilien
In Schulfamilien erarbeiten Schulaufsicht, Schulleitungen und Lehrkräfte gemeinsam Lösungen für Herausforderungen.
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Deutsches Schulportal: Was ist die Idee des Projekts „Wir.Lernen – Grundschulen in Baden-Württemberg sichern Basiskompetenzen“?
Anne Sliwka: Die Idee ist, dass Schulleitungen und Lehrkräfte von mehreren Grundschulen mit der für sie zuständigen Schulaufsicht, also der Schulrätin oder dem Schulrat, zusammenarbeiten. Sie bilden zusammen sogenannte Schulfamilien, die regelmäßig zusammenkommen und gemeinsam Lösungen entwickeln, um strategische Ziele zu erreichen. Bei „Wir.Lernen“ geht es inhaltlich darum, die Kompetenzstandards der Kinder in zentralen Bereichen der Grundschulbildung, vor allem in Sprache und Mathematik, systematisch und nachhaltig zu verbessern.

Woher kommt das Modell Schulfamilie?
In vielen Ländern ist das Modell der Schulfamilien schon lange etabliert: In leistungsstarken Schulsystemen wie Kanada, Singapur, Australien, Neuseeland, Finnland oder Estland arbeiten Schulaufsicht und Schulleitung in dieser Weise zusammen. Dort ist das kein Projekt, das für ein paar Jahre läuft, sondern eine etablierte Struktur, die sich seit etwa 20 Jahren entwickelt hat. Man hat in diesen Ländern schon früh festgestellt, dass Schule heutzutage die Herausforderungen nur bewältigen kann, wenn die professionellen Kräfte gut zusammenarbeiten und wenn das Schulsystem die Einzelschulen fortlaufend unterstützt.

Lernprozesse in der Mitte des Schulsystems

Was ist Ziel dieser gemeinsamen Arbeit?
Es geht um das Lernen in der Mitte des Schulsystems, also dem Ort, an dem die Schulaufsicht als Verwaltungsstruktur und die Schulleitung als schulische Leitungsstruktur zusammenkommen. Die beiden Steuerungszentralen werden miteinander verzahnt und begeben sich in einen ko-konstruktiven Lernprozess. Sie treffen sich regelmäßig und arbeiten gemeinsam an Themen mit dem Ziel, dass das Schulsystem als Ganzes und zugleich die beteiligten Einzelschulen für sich bestimmte strategische Ziele erreichen.

Die Idee von Schulnetzwerken ist nicht neu – meist bleiben dabei aber Schulen unter sich. Wieso ist es wichtig, dass auch die Schulaufsicht mit in einer Schulfamilie ist?
Die Schulentwicklungsforschung hat festgestellt, dass vor allem die Innovationsprojekte erfolgreich sind, bei denen Bottom-up- und Top-down-Prozesse ineinandergreifen. Prozesse, die nur top down gesteuert sind – wo also das Ministerium eine Vorgabe macht, die die Schulen auszuführen haben –, kommen in der Praxis häufig nicht an oder werden abgelehnt. Und Bottom-up-Prozesse funktionieren oft ebenfalls nicht, denn wenn eine Einzelschule ein gutes Konzept entwickelt und umsetzt, bleibt das meist in der einen Schule stecken und verbreitet sich nicht. Es kommt also auf die Verzahnung vertikaler und horizontaler Lernprozesse an.

Schulaufsicht organisiert die Treffen der Schulfamilie

Wie kann man sich die Arbeit in einer Schulfamilie konkret vorstellen?
Die Schulfamilie – vertreten durch die Schulleitungen, manchmal auch zusätzlich durch einzelne Lehrkräfte, und die Schulaufsicht – arbeitet regelmäßig, etwa einmal im Monat, für einen halben Tag zusammen. Die Schulaufsicht bereitet in Absprache mit den Schulen diese Treffen und den gemeinsamen Lernprozess vor.

Meist ist es so organisiert, dass reihum eine Schule Gastgeberin der Treffen ist und die anderen Schulen zu sich einlädt. So lernen sich die Beteiligten auch gut kennen. In Kanada ist es zum Beispiel üblich, dass die Gastgeberschule am Anfang des Treffens etwas zeigt, worauf sie stolz ist. Das kann ein Mathekonzept sein, das gut funktioniert, oder eine besondere AG oder ein besonderer Raum in der Schule.

Bei jedem Treffen gibt es eine Tagesordnung mit einem vorher vereinbarten Thema. Dazu schauen sich die Beteiligten im Vorfeld wissenschaftliche Texte, Datenerhebungen oder Praxisbeispiele an, die es zu diesem Thema gibt. Bei den Treffen diskutieren sie dann gemeinsam darüber und überlegen, welche Schlussfolgerungen sich daraus für die Schulentwicklung ziehen lassen.

Bei „Wir.Lernen“ würde es sich zum Beispiel anbieten, gemeinsam erst einmal die IQB-Daten anzuschauen und die Problemlagen in Bezug auf Basiskompetenzen und Mindeststandards zu diskutieren. Danach geht es dann um die wirksamen Programme zur Förderung der Basiskompetenzen, zum Beispiel das Training von Leseflüssigkeit, und um die notwendige Schulentwicklung, damit diese gut umgesetzt werden können.

Schulen dürfen nicht an den Pranger gestellt werden, sonst kann kein vertrauensvoller, zukunftsorientierter Dialog entstehen.

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit die Zusammenarbeit in den Schulfamilien gut funktioniert?
Die Schulfamilien arbeiten strategisch und zielorientiert. Damit das gelingt, braucht es Präzision in der Zusammenarbeit. Die Treffen sind nicht vergleichbar mit einer sporadischen Konferenz oder Dienstbesprechung, wie wir sie aus Schulen kennen. Sie müssen inhaltlich sehr gut vorbereitet sein.

Der andere Erfolgsfaktor ist das wechselseitige Vertrauen. Es darf grundsätzlich kein Blaming geben, Schulen dürfen nicht an den Pranger gestellt werden, sonst kann kein vertrauensvoller, zukunftsorientierter Dialog entstehen. Für diese Vertrauensbildung braucht es Zeit.

Auf Basis von Daten entwickeln Schulfamilien Lösungen von Problemen

Wie kann eine datengestützte Arbeit in den Schulfamilien aussehen?
In leistungsstarken Schulsystemen werden Daten systematisch auf allen Schulebenen erhoben – für jede Einzelschule, auf regionaler Ebene und im Bundesland. So weit sind wir in der Fläche von Deutschland noch nicht.

Im Idealfall hat jeder Zugriffrechte auf die Daten, die für die eigenen Arbeitsbereiche  relevant sind. Die Schulleitung hat den Zugriff auf alle Daten ihrer Schule, die Schulaufsicht auf die Daten aller Schulen in ihrem Verantwortungsbereich. In den Schulfamilien schaut man dann gemeinsam auf diese Daten, ohne dass die Einzelschule dabei die Daten für ihre Schule offenlegen muss. Bei der Analyse der Daten stellen sich folgende Fragen: Vor welchen Herausforderungen stehen wir? Welche Lösungen gibt es? Welche Entwicklungen sehen wir?

Bei der datengestützten Schulentwicklung gilt das Prinzip „data informed“ – nicht „data driven“. Das heißt: Es gibt bis dahin noch keine Lösungen für die Herausforderungen. Die entwickeln die Schulfamilien erst auf Grundlage der vorliegenden Daten. Die Daten bilden also den Ausgangspunkt für die gemeinsame Arbeit. Aber es kann natürlich sein, dass eine Schule bereits gute Praxis zu einer Frage entwickelt hat, die andere Schulen dann gut aufgreifen können.

Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Nehmen wir das Thema Lesemotivation. Wenn sich zum Beispiel in den Datenerhebungen zeigt, dass die Lesemotivation an vielen Schulen besonders bei Jungen stark abgenommen hat, könnten sich die Schulfamilien mit diesem Thema auseinandersetzen. Sie schauen dann auch, welche Programme es für die Leseförderung schon gibt.

Vielleicht hat auch schon eine Schule der Schulfamilie eine Initiative entwickelt, die sie einbringen kann. Eine Schule in Kanada hat als Antwort auf das Problem zum Beispiel spezielle Lesenächte für Jungen organisiert. Da kam dann zum Beispiel ein Polizist in Uniform, der Kriminalgeschichten vorgelesen hat, oder ein Fußballer im Trikot, der eine Fußballstory vorgelesen und mit den Kindern dann über Lesen und über Fußball gesprochen hat. So wird Lesen ein cooler Prozess, und die Kinder erleben, dass sie über das Gelesene ins Gespräch kommen. Die anderen Schulen haben sich das Konzept vor Ort angesehen.

Die Schulfamilie bietet einen Lernraum – aber es ist die Entscheidung der jeweiligen Schulleitung, was sie selbst von den Programmen und Ideen übernimmt. Das wird nicht kollektiv in der Schulfamilie entschieden. Es passt auch nicht jedes Konzept zu jeder Schule.

Unsere Schulkultur ist zumindest in Teilen von Abgrenzung und Misstrauen geprägt.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen, damit Schulfamilien auch in Deutschland erfolgreich arbeiten können?
Mit jeder Umstrukturierung muss ein kultureller Wandel erfolgen. Denn es geht bei den Schulfamilien nicht darum, für ein paar Jahre ein neues Projekt zu machen, sondern in der Mitte des Schulsystems eine neue Struktur zu etablieren, die ein relativ eng getaktetes strategisches Lernen ermöglicht. Deutschlands Schulsystem hat so eine Kultur der Zusammenarbeit noch nicht. Unsere Schulkultur ist zumindest in Teilen von Abgrenzung und Misstrauen geprägt. Das betrifft sowohl benachbarte Schulen untereinander als auch das Verhältnis zwischen Schulaufsicht und Schulleitung. Das lässt sich nicht von heute auf morgen überwinden.

Darum kommt es darauf an, dass die Führungskräfte – also die Schulleitungen und die Schulaufsicht –, die jetzt bei „Wir.Lernen“ beteiligt sind, voll hinter der Idee der Schulfamilien stehen. Vor allem kommt es hier auf die Schulaufsicht an, die eine entsprechende Kultur der Kooperation vorleben muss.

Aber sie profitiert auch davon. Sie kann die Schulen, für die sie zuständig ist, so viel besser kennenlernen. Dafür fehlte es bislang an Zeit und an einer guten Struktur, miteinander zu arbeiten.

Konzept von Schulfamilien überwindet auch überholte Struktur von Fortbildungen

Wie begleitet die Uni Heidelberg das Projekt?
Wir haben eine konzeptionelle Rolle, indem wir den Prozess der Zusammenarbeit strukturieren und den wissenschaftlichen Hintergrund liefern. Zum Beispiel suchen wir wissenschaftliches Material heraus, mit dem sich die Schulfamilien befassen können. Die Wirkungsevaluation findet dann durch Nina Bremm am Lehrstuhl für Schulpädagogik der Universität Erlangen-Nürnberg statt.

Sehen Sie in Schulfamilien ein Zukunftsmodell?
Ja, absolut. Weil es ein Modell ist, das zum einen die „Projektitis“ und zum anderen die längst überholte Struktur von Fortbildungen für Schulleitungen und Schulaufsichten überwindet. Traditionell fahren sie heute für drei Tage irgendwo hin zu einer Fortbildung, und dann passiert monatelang, manchmal sogar Jahre nichts. Das ist für die Schulentwicklung wenig effektiv.

Das Konzept der Schulfamilien führt hingegen zu einem gemeinsamen kontinuierlichen Lernen und zu konkretem strategischen Handeln. Das ist aus meiner Sicht der entscheidende paradigmatische Wechsel, der jetzt in Deutschland ansteht und den andere Schulsysteme schon mit großem Erfolg vollzogen haben.

Mehr zum Projekt

  • Das Projekt „Wir.Lernen – Grundschulen in Baden-Württemberg sichern Basiskompetenzen“ stellt die Förderung von sprachlichen und mathematischen Basiskompetenzen in den Fokus. Ziel ist es, dass alle Schülerinnen und Schüler nach der vierten Klasse die Mindeststandards erreichen, damit sie auf der weiterführenden Schule anschlussfähig weiterlernen können.
  • Nach dem Konzept von Schulfamilien arbeiten Schulen gemeinsam mit ihren Schulrätinnen und Schulräten an der Gestaltung einer diagnosebasierten Unterrichtsgestaltung. In Baden-Württemberg arbeiten in der ersten Kohorte vier Schulverbünde mit je vier Grundschulen zusammen. Laufzeit der Zusammenarbeit ist von Dezember 2022 bis Juli 2024. Eine zweite Kohorte startet im September 2023.
  • „Wir.Lernen“ ist ein Kooperationsprojekt des Kultusministeriums und des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg mit der Robert Bosch Stiftung. Das Projekt ist Teil des Gesamtkonzepts „Starke BASIS!“, das Unterstützungsangebote für den Erwerb von Basiskompetenzen bündelt.

Zur Person

  • Anne Sliwka ist Professorin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Heidelberg. Sie forscht über Schul- und Schulsystementwicklung sowie Lehrerprofessionalität in international-vergleichender Perspektive.
  • Sie ist im wissenschaftlichen Beirat für das neue Qualitätskonzept in Baden-Württemberg.
  • Anne Sliwka gehört auch zur Jury des Deutschen Schulpreises.
Anne Sliwka